Karrar Español ist ein 25-jähriger irakischer Asylbewerber und Künstler, der derzeit in Litauen im Migrant*innenlager Kybartai inhaftiert ist und mit diesem Bild zeigen will, wie es sich anfühlt, inhaftiert zu werden, nur weil er Asyl beantragt hat. © Karrar Español
Karrar Español ist ein 25-jähriger irakischer Asylbewerber und Künstler, der derzeit in Litauen im Migrant*innenlager Kybartai inhaftiert ist und mit diesem Bild zeigen will, wie es sich anfühlt, inhaftiert zu werden, nur weil er Asyl beantragt hat. © Karrar Español

Litauen / Belarus Push-Backs, rechtswidrige Inhaftierungen und Misshandlung von Menschen auf der Flucht

Medienmitteilung 27. Juni 2022, London/Bern – Medienkontakt
Geflüchtete und Migrant*innen, die aus Belarus nach Litauen eingereist sind, sind oft schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Zu diesem Schluss kommt ein neuer Bericht von Amnesty International. Die Europäische Kommission hat bisher versagt, Litauen zur Einhaltung von EU- und Völkerrecht zu verpflichten.

Die litauischen Behörden halten Tausende Menschen willkürlich in von Militär geführten Haftzentren fest, wo sie unmenschlichen Bedingungen, Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt sind. Amnesty International dokumentiert in einem neuen Bericht, wie Geflüchtete und Migrant*innen monatelang in heruntergekommenen, gefängnisähnlichen Einrichtungen in Litauen festgehalten werden. Dort wird ihnen der Zugang zu fairen Asylverfahren verwehrt und sie sind anderen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Die Behörden wollen so dafür sorgen, dass die Menschen «freiwillig» in die Länder zurückkehren, aus denen sie geflohen sind.

Diese Behandlung steht im krassen Gegensatz zu dem Wohlwollen, mit dem vor dem Krieg in der Ukraine flüchtende Menschen in der EU empfangen werden.

Viele Inhaftierte berichteten von Schlägen, Beleidigungen, rassistisch motivierter Einschüchterung und Schikane.

Amnesty International hat zwei der litauischen Haftzentren, die «Ausländerregistrierungszentren» in Kybartai und Medininkai, besucht und mit 31 Personen aus Ländern wie Kamerun, der Demokratischen Republik Kongo, Irak, Nigeria, Syrien und Sri Lanka, gesprochen, die dort rechtswidrig inhaftiert sind. Viele von ihnen berichteten, Schlägen, Beleidigungen, rassistisch motivierter Einschüchterung und Schikane ausgesetzt gewesen zu sein. In den stark gesicherten Haftzentren fehlt es an sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. «Im Irak hören wir von Menschen- und Frauenrechten in Europa. Aber hier gibt es keine Rechte», sagte eine jesidische Frau, die in der Hafteinrichtung von Medininkai nahe der Grenze zu Belarus festgehalten wird.

«Alle Menschen, die Schutz suchen, sollten gleich und mit Respekt behandelt werden. Aber die Menschen, mit denen wir in Litauen gesprochen haben, wurden seit Monaten unter entsetzlichen Bedingungen rechtswidrig festgehalten und waren physischem und psychischem Missbrauch und anderen Formen herabwürdigender Behandlung ausgesetzt. Alle Menschen in diesen Hafteinrichtungen müssen unverzüglich freigelassen werden und Zugang zu fairen Asylverfahren erhalten», sagt Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International. «Während Litauen Zehntausenden Geflüchteten aus der Ukraine zu Recht einen herzlichen Empfang bereitet hat, könnte die Erfahrung der Inhaftierten, mit denen wir gesprochen haben, nicht unterschiedlicher sein. Dies gibt Anlass zu ernster Sorge über institutionellen Rassismus im litauischen Migrationssystem.»

«Die Menschen, mit denen wir in Litauen gesprochen haben, wurden seit Monaten unter entsetzlichen Bedingungen rechtswidrig festgehalten.» Nils Muižnieks, Direktor für Europa bei Amnesty International

Automatische, rechtswidrige Inhaftierung und Asylverweigerung

Vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl an Personen, die an Litauens Grenze zu Belarus eintreffen, verabschiedete das litauische Parlament im Juli 2021 eine neue Gesetzgebung. Sie sieht eine automatische Inhaftierung von Menschen vor, die die Landesgrenze ohne Einreiseerlaubnis überqueren. Dies hatte zur Folge, dass Tausende Menschen, darunter viele, die internationalen Schutz benötigen, über einen längeren Zeitraum festgehalten wurden. Zahlreichen Personen wurde zudem monatelang jegliche Möglichkeit vorenthalten, ihre Inhaftierung anzufechten. Bei vielen Menschen wurde der Antrag auf Asyl nie geprüft. Tausende weitere Personen wurden gewaltsam über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt, wo sie keine Möglichkeit haben, um Schutz zu ersuchen.

In der Hafteinrichtung Medininkai werden weiterhin hunderte Personen festgehalten, die in Containern auf einem Fussballplatz schlafen. Die Häftlinge, mit denen Amnesty International gesprochen hat, waren wegen des aggressiven Verhaltens des Wachpersonals in der Hafteinrichtung stark verängstigt.

Es gab zahlreiche Berichte über Misshandlungen, die zum Teil den Tatbestand der Folter erfüllen, und über unverhältnismässige Gewaltanwendung, unter anderem durch den Einsatz von Pfefferspray und anderer Spezialausrüstung. Ausserdem wurden Häftlinge in Isolationshaft gesteckt und von Hunden gebissen, wenn sie zu fliehen versuchten. Gegen einen in der Einrichtung tätigen Psychologen laufen derzeit Ermittlungen wegen angeblicher sexualisierter Gewalt gegen Inhaftierte.

Darüber hinaus hat Amnesty International auch Fälle dokumentiert, in denen insbesondere Schwarze Männer und Frauen zutiefst beleidigenden rassistischen Bemerkungen ausgesetzt waren.

Zwei-Klassen-System wird geduldet

Im August 2021 verweigerte Litauen Personen an der Grenze, die über keine Einreiseerlaubnis verfügten, daran, das Recht um Asyl zu ersuchen. Anträge, die vor diesem Zeitpunkt gestellt worden waren, wurden von den Behörden offensichtlich ignoriert und verzögert. Diese missachteten verfahrensrechtliche Garantien, behinderten den Zugang von Asylsuchenden zu erforderlichen Nachweisen und stellten häufig keine angemessene Übersetzung durch Dolmetscher*innen zur Verfügung.

Amnesty International prangert das Rechtshilfesystem als Scheinsystem an. Rechtsbeistände, die Asylsuchende in Asylverfahren vertreten sollen, werden von der Migrationsbehörde unter Vertrag genommen, deren Entscheidungen die Rechtsbeistände im Grunde anfechten sollen. Dadurch besteht die Gefahr eines Interessenkonflikts.

Die Europäische Union hat in den letzten Monaten die Entwicklung eines Zwei-Klassen-Systems zugelassen. Während ukrainische Staatsangehörige in der EU Schutz geniessen und mit Mitgefühl behandelt werden, werden Menschen, die aus anderen Ländern fliehen, eingesperrt und mit einem System konfrontiert, das in beschämender Weise von Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung geprägt ist.

Die Reaktionen der Europäischen Kommission auf den Versuch Litauens, Push-Backs, automatische Inhaftierung und die Verweigerung von Asyl mittels seiner nationalen Gesetzgebung zu «legalisieren», reichten von offenem Lob bis zu stillschweigendem Einverständnis. Die EU-Kommission erklärte den Mitgliedern des Europäischen Parlaments zwar, Push-Backs seien eindeutig rechtswidrig, meinte aber, es lägen keine konkreten Beweise vor, dass diese auch durchgeführt würden. Der Bericht von Amnesty International liefert mehr als genug Beweise. Auch andere internationale Organisationen und lokale Gruppen haben dies bereits im letzten Jahr belegt.

Die Europäische Kommission hat bisher noch kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Litauen eingeleitet, dessen Gesetzgebung, Politik und Vorgehensweisen eklatant gegen das Völkerrecht und EU-Recht verstossen. In der Zwischenzeit leisten Angehörige der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex den litauischen Behörden weiterhin Unterstützung bei Kontrollen an der Grenze.

«Ein Jahr nach Litauens Versuch, eine Rechtswidrigkeit zu Recht zu machen, hat die Europäische Kommission noch immer nichts unternommen, um die litauische Gesetzgebung mit EU-Recht in Einklang zu bringen. Solange die Europäische Kommission untätig bleibt, lautet ihre Botschaft an die Mitgliedstaaten, dass EU-Gesetze ungestraft verletzt werden können», so Nils Muižnieks.