Erstens: die Lösung aller Probleme. Zweitens: der Ort für eine bessere Zukunft. Drittens: der Kontinent der Gerechtigkeit. So hatte sich Abdallah Europa vorgestellt, bevor er es kennenlernte. Heute denke er anders über jenen Kontinent, auf dem man ihn als Terroristen beschuldigt, schreibt der 22-Jährige aus Guinea über Whatsapp im Frühsommer.
Kader hingegen wollte nie nach Europa. Kurz ins Ausland, Geld verdienen, für die Fussballschule sparen – das war der Plan des heute 19-Jährigen von der Elfenbeinküste. Drei Jahre, nachdem er seine Heimat verlassen hat, ist er seinem Ziel ferner denn je. Nach einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle kann er nicht mehr Fussball spielen. Mit einem kaputten Bein sitzt er auf Malta fest und wartet auf einen Gerichtsprozess, der für ihn mit lebenslanger Haft enden könnte. «Wenn ich daran denke, kommen mir die Tränen», sagt er im Videochat. «Manchmal glaube ich, dass mein ganzes Leben zerstört ist.»
«Diese Menschenrechte gelten nur für Europäer. Nicht für Afrikaner.» Lamin, der seine Heimat verliess, als er 13 Jahre alt war.
Lamin1 ist der jüngste der drei. Mit 13 Jahren verliess er seine Heimat Guinea. Wenn er frei ist, möchte er zurück in die Schule gehen. Wann und ob das möglich sein wird, ist ungewiss. «Ich bin verwirrt, weil Europa ja demokratisch ist und Menschenrechte achtet», sagt der 17-Jährige bei einem Telefonat im Mai. «Aber diese Menschenrechte gelten nur für Europäer. Nicht für Ausländer, nicht für Afrikaner.»
Die drei jungen Männer, weltweit bekannt als El Hiblu 3, gelten vielen als Helden, weil sie mehr als hundert Geflüchtete davor bewahrten, menschenrechtswidrig nach Libyen zurückgebracht zu werden. Die maltesischen Behörden beschuldigen sie hingegen, den Öltanker El Hiblu 1 im März 2019 zur Fahrt nach Malta gezwungen zu haben, nachdem dieser sie und 105 weitere Geflüchtete von einem sinkenden Schlauchboot im Mittelmeer gerettet hatte.
Der Tanker hatte zunächst versucht, die aufgenommenen Passagiere nach Libyen zu bringen. Als daraufhin Panik an Bord ausbrach, vermittelten und dolmetschten Abdallah, Kader und Lamin zwischen der Besatzung und den Geflüchteten. Schliesslich änderte die Crew ihren Kurs und brachte die geretteten Menschen nach Malta. Dort stürmte das maltesische Militär das Schiff, nahm die drei Teenager fest und behauptete, sie hätten den Tanker gekapert. Ihnen droht eine Anklage wegen Straftaten wie Terrorismus und Entführung des Schiffes. Seit zweieinhalb Jahren warten sie auf ihren Prozess. Obwohl sie das Gefängnis auf Malta gegen Kaution verlassen durften, fühlen sie sich wie Gefangene.
Das gemeinsam Erlebte hat sie zu Freunden gemacht.
© Amnesty International/Joanna Demarco
Fast durchgehend in Gefangenschaft
Barfuss und mit wackeligen Schritten gehen die Männer, Frauen und Kinder über die gelbe Metallrampe von Bord der El Hiblu 1. Das Video vom März 2019 zeigt, wie sie sich nach den Tagen auf See am Geländer festhalten. Ein Mann fällt am Ufer auf die Knie, drückt die Stirn auf den Boden und betet. Die 108 Menschen, die an diesem Tag Malta erreichen, sind zwei grausamen Schicksalen entkommen: dem Tod durch Ertrinken, den in jenem Jahr mindestens 1885 Menschen im Mittelmeer fanden; und der Folter und Versklavung, die Migrant*innen im Bürgerkriegsland Libyen drohen.
In Libyen wurde Kader als Arbeitssklave auf einem Bauernhof eingesetzt, bis er flüchten konnte.
«Das Jahr in Libyen habe ich fast durchgehend in Gefangenschaft verbracht», erinnert sich Kader. Er trägt ein Sport-Shirt und hat seine Rastazöpfe nach oben gebunden. Von seinem Zimmer in einer WG aus berichtet er von den Stationen seiner Reise, die in der Elfenbeinküste begann. Nachdem er die Grenze von Algerien nach Libyen überquert hatte, wurde er in ein Gefängnis gesperrt, wo die Inhaftierten gefoltert wurden, um Lösegeld von ihren Familien zu erpressen. Von dort aus wurde er als Arbeitssklave auf einem Bauernhof eingesetzt, bis er flüchten konnte – nur um erneut entführt und monatelang zur Arbeit gezwungen zu werden. Als er es schliesslich auf eines der Schlauchboote an der libyschen Küste schaffte, ahnte er nicht, dass selbst die Flucht nach Europa ihm die Freiheit nicht wiedergeben würde.
«Kommen Kriminelle barfuss und ohne Waffen?»
Lamin verliess seine Heimat Guinea, um Geld für seine Ausbildung zu verdienen. Am liebsten wäre er in Algerien geblieben, wo er Arbeit und eine Unterkunft fand. «Ich war dort sehr glücklich», erinnert er sich. Als die algerischen Behörden jedoch begannen, schwarze Menschen festzunehmen und in der Wüste auszusetzen, floh er nach Libyen und schliesslich auf das Schlauchboot, das der El Hiblu 1 begegnen sollte. Weil Lamin auf einer englischen Schule gewesen war, wurde er zum Ansprechpartner des Kapitäns, als dieser die Schiffbrüchigen am Morgen des 26. März auf den Tanker holte. Als später die Proteste an Bord begannen, dolmetschte er erneut.
Die Crew hatte den Geretteten versprochen, sie nicht nach Libyen zurückzubringen. Als diese nach einigen Stunden Fahrt die Lichter von Tripolis erkannten, versuchten einige, sich ins Wasser zu stürzen, andere wollten mit dem Kapitän sprechen. Abdallah und Kader gelang es die Menschen zu beruhigen, während Lamin dem Kapitän ihre verzweifelte Lage erklärte. Dass er dafür bestraft werden könnte, kann er nicht fassen. «Sind Verbrecher denn mit schwangeren Frauen unterwegs? Kommen Kriminelle barfuss und ohne Waffen?», fragt er. «Sie wissen genau, dass wir keine Terroristen sind.»
Um Punkt 19 Uhr beginnt Lamins Handy zu piepsen. Jeden Tag erinnert es ihn daran, dass er sich bei der Polizeistation melden muss. Tut er das nicht, muss er zurück ins Gefängnis. Das Gleiche gilt für Abdallah und Kader, die seine besten Freunde geworden sind. Heute hat Lamin sich schon gemeldet und kann den Alarm abschalten. Doch ganz wohl ist ihm damit nie: «Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und frage mich, ob ich am Tag vorher bei der Polizei war.» Die Sorgen würden ihn innerlich auffressen, erklärt er.
Zweieinhalb Jahre nach der verhängnisvollen Nacht auf dem Mittelmeer steht das Leben der El Hiblu 3 still. Zwischen den Besuchen auf der Polizeistation und harten Arbeitstagen auf Baustellen oder in Fabriken warten sie darauf, ein neues Leben in Freiheit beginnen zu können. Kader möchte jetzt IT-Sicherheit studieren. Auch Lamin will etwas lernen, herausfinden, was ihm liegt. Abdallah, der Älteste, möchte sein Soziologie-Studium beenden und für seine Frau und die beiden Töchter sorgen, von denen eine auf Malta geboren ist, während die andere bei seiner Mutter in Guinea lebt. Um seiner Familie eine bessere Zukunft zu ermöglichen, hatte er sie damals zurückgelassen.
Alle drei leiden unter der Ungewissheit und der nicht enden wollenden Wartezeit. Durch die Pandemie sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit noch eingeschränkter, Lichtblicke gibt es kaum. Für Abdallah liegen sie vor allem in der internationalen Solidarität: «Organisationen, Journalisten und Menschen aus aller Welt werden nicht müde, sich für unseren Fall einzusetzen», sagt er. Und auch Lamin berichtet, wie viele Menschen ihm geschrieben haben, dass sie auf seiner Seite stehen. «Sie können uns zwar nicht befreien», sagt er, «aber ihre Stimmen geben uns Hoffnung.»
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