Der Bericht «Poland: Free Courts, Free People» («Polen: Freie Gerichte, freie Menschen») dokumentiert, wie die Regierung seit Ende des Jahres 2015 eine Reihe von gesetzlichen und politischen Massnahmen verabschiedet hat, welche die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Dies umfasst die politisierte Ernennung von RichterInnen sowie die nunmehr ausschliessche Befähigung des Justizministeriums, PräsidentInnen und Vize-PräsidentInnen der Gerichte zu entlassen und zu ernennen, wie auch OberrichterInnen in den Ruhestand zu schicken. Die Regierung setzt darüber hinaus Disziplinarverfahren als Waffe gegen RichterInnen ein, die sich gegen die «Reformen» ausgesprochen haben und lässt sie um ihren Arbeitsplatz bangen.
Schikanen – online wie offline
Der Bericht zeigt auf, wie die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz sich auf den Alltag all jener RichterInnen auswirkt, die dazu Position beziehen.
Amnesty International sprach mit Richter Waldemar Żurek, dem ehemaligen Sprecher des Nationalen Justizrates, der jahrelang Einschüchterungsversuchen und Belästigungen ausgesetzt war, nachdem er die «Reformen» der Regierung öffentlich kritisiert hatte. Verschiedene Behörden hatten gegen Richter Żurek ungerechtfertigte Disziplinarverfahren eingeleitet und auch seine Angehörigen in ihre Untersuchungen hineingezogen. Er erhielt Drohbriefe, beleidigende Textnachrichten und wurde im nationalen Fernsehen diffamiert.
Besonders stark litten polnische RichterInnen unter Schikanen im Internet. Von anonymen Twitter-Accounts wurden persönliche Angriffe auf Schlüsselpersonen gestartet.
Über eines dieser Konten wurden routinemässig Tweets veröffentlicht, die gegen Richterinnen gerichtet waren – besonders häufig waren Frauen betroffen – die sich gegen die Regierung wendeten. Über dieses Konto wurden in der Vergangenheit als geheim oder teilweise geheim eingestufte Informationen veröffentlicht, was den Verdacht nahelegt, dass der Account von regierungsnahen Personen betrieben wird. So wurde am 3. April 2019, als die EU-Kommission ihr drittes Vertragsverletzungsverfahren gegen die Justizreformen in Polen ankündigte, über den Account ein Foto eines vertraulichen Briefes der EU-Kommission an die polnische Regierung getweetet.
Keine freie Rechtssprechung mehr
Amnesty International sprach auch mit RichterInnen, die Belästigungen ausgesetzt wurden, nachdem sie mit ihren Entscheiden die Rechte friedlicher DemonstrantInnen schützten.
Als eine Frau bei einer Kundgebung über den Rückschritt der Frauenrechte und über die Bedrohungen für die Justiz sprach und dabei sagte: «Die Situation in meinem Land kotzt mich an» wurde ihr dies als eine ordnungswidrige Handlung in der Öffentlichkeit zu Lasten gelegt.
Sławomir Jęksa, Richter am Bezirksgericht Poznań entschied, dass die Frau keine Straftat begangen hatte, da sie diese Worte bei einer Demonstration wählte, bei der die Redefreiheit «grundsätzlich weiter gefasst» werden müsse. Er nahm ausserdem Bezug darauf, was die Demonstrantin im Zuge ihrer Rede über die Bedrohung der richterlichen Unabhängigkeit gesagt hatte. Sofort danach wurde ein Disziplinarverfahren gegen Richter Jeksa eingeleitet, bei dem der Ankläger behauptete, das Urteil sei «politisch motiviert» gewesen.
Darüber hinaus hatten einige RichterInnen, die den EU-Gerichtshof (EUGH) um Hilfe in Rechtsfragen angesucht hatten, mit Untersuchungsverfahren zu kämpfen. Der Ankläger in Disziplinarverfahren verhörte etwa Ewa Maciejewska, Richterin in der Stadt Łodz, nachdem sie den EUGH zur Klärung der Vereinbarkeit der neuen Disziplinarverfahren angerufen hatte. Diese stellen ein Kernstück der «Reformen» dar.
Die Richter und Richterinnen wehren sich
Amnesty hat erfreulicherweise festgestellt, dass den RichterInnen, die mit solchen Belästigungen zu kämpfen haben, ein hohes Mass an Solidarität seitens ihrer KollegInnen zuteilwird. Nachdem eine Disziplinarkammer der Richterin Alina Czubieniak eine ungerechtfertigte Rüge erteilte, weil sie eine neuerliche Untersuchung im Fall einer Inhaftierung angeordnet hatte, hielten RichterInnen in mehr als 20 Gerichten in ganz Polen Transparente hoch, auf denen «Wir lassen uns nicht einschüchtern» zu lesen stand.
In manchen Fällen zog diese Solidaritätsbekundung neuerliche Schikanen nach sich. Im April rief der Präsident des Regionalgerichts Olsztyn, der nach der «Reform» ernannt worden war, die Polizei, als eine Gruppe Richterinnen und Juristen eine solidarische Mahnwache in der Stadt abhielt.
«Richterinnen und Richter müssen ohne politische Einflussnahme Recht sprechen können. Die polnische Regierung muss sämtliche Disziplinarverfahren gegen Richter und Staatsanwältinnen, die legitime Urteile gefällt und rechtmässig protestiert haben, mit sofortiger Wirkung fallen lassen. Sie dürfen auch in Zukunft Disziplinarmassnahmen nicht dazu missbrauchen, Kontrolle über die Justiz auszuüben», sagt Barbora Černušáková, Researcherin für Osteuropa bei Amnesty International.
«Die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte stellen die Gründungsprinzipien der EU dar. Andere EU-Mitgliedsstaaten müssen Polen weiterhin dazu auffordern, dem eklatanten Verstoss gegen diese Prinzipien ein Ende zu setzen und die Regierung zur Rechenschaft ziehen, wenn sie an dieser Praxis festhält.»
Weitere Informationen
Am 24. Juni 2019 äusserte sich Amnesty International zur Feststellung des Europäischen Gerichtshofs (EUGH) , dass die Justizreformen am polnischen Obersten Gerichtshof – die darauf ausgelegt sind, ein Drittel der RichterInnen am obersten Gerichtshof ihres Amtes zu entheben – als gesetzeswidrig zu erachten seien.