«Mittlerweile beneide ich diejenigen Eltern, welche die Leichen ihrer Kinder finden.»
Boris Ozdoev, Vater eines Opfers des Verschwindenlassens
Der Bericht The circle of injustice: Security operations and human rights violations in Ingushetia dokumentiert Menschenrechtsverletzungen wie rechtswidrige Tötungen, Verschwindenlassen und Folter. Auch wenn der Bericht sich auf eine Teilrepublik im Nordkaukasus konzentriert, gelten die im Bericht vorgestellten Erkenntnisse für die gesamte Region.
«Die Situation im Nordkaukasus ist zwar in den letzten Jahren vom Radar der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit verschwunden, doch werden weiterhin in der ganzen Region unkontrolliert und unbestraft schwere Menschenrechtsverletzungen begangen», erklärt John Dalhuisen, Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien von Amnesty International. «Es müssen endlich ernsthafte Massnahmen getroffen werden, um Menschenrechtsverletzungen durch ausserhalb jeder Kontrolle agierende Ordnungskräfte einen Riegel zu schieben. Anders kann die Sicherheit in dieser Region nicht nachhaltig hergestellt werden.»
Mindestens 200 Menschen verschwunden
Schätzungen zufolge wurden seit 2002 mehr als 200 Menschen von bewaffneten und maskierten Personen entführt, ohne dass in Inguschetien oder in der Region jemals jemand wegen Verschwindenlassen belangt worden wäre.
Jedes Jahr wird in Inguschetien über unrechtmässige Tötungen berichtet, viele davon sollen im Rahmen von Sicherheitsoperationen begangen worden sein. Doch bisher wurde nicht ein einziger Fall vor einem Gericht verhandelt.
Sicherheitsoperationen werden unter den Bedingungen der Geheimhaltung durchgeführt, was Missbräuchen Tür und Tor öffnet. Menschenrechtsverletzungen werden oft von Sicherheitskräften begangenen, die Masken tragen, aber keine Kennzeichen, die eine Identifizierung ermöglichen würden. Sie benützen zudem Fahrzeuge ohne Nummernschilder. Diese Praxis sowie die komplexe und undurchsichtige Struktur der im Nordkaukasus operierenden Sicherheitskräfte ermöglicht es den Behörden, die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen zu leugnen.
Unparteilichkeit von Ermittlern ist fraglich
«Es ist, als sei ein Schleier über die Aktivitäten der Sicherheitskräfte im Nordkaukasus gelegt worden», sagt John Dalhuisen. «Manchmal sind Ermittelnde und Staatsanwälte wirklich nicht in der Lage, die Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Oft scheinen sie dazu jedoch gar nicht willens zu sein, denn Ermittlungsstränge werden fallen gelassen oder nicht erst verfolgt. Dies stellt die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Ermittlern und Staatsanwälten in Frage.»
Trotz strafprozessualer Reformen nach dem Ende der Sowjetunion und der Einführung verfahrensrechtlicher und praktischer Sicherheitsmassnahmen gegen Folter gibt es überwältigendes Beweismaterial dafür, dass Folter noch immer weit verbreitet ist. Polizeiangestellte nutzen sie dazu, um Geständnisse und Zeugenaussagen zu erpressen.
Junger Tschetschene gefoltert
Zelimkhan Chitigov, ein junger Tschetschene, wurde im April von etwa 30 bewaffneten Männern entführt und mit einer Plastiktüte über dem Kopf und hinter dem Rücken gefesselten Händen an einen unbekannten Ort gebracht. Nachdem er sich weigerte, terroristische Aktivitäten zu gestehen, wurde er geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert. Ihm wurden die Zehennägel ausgerissen, seine Haut wurde mit einer Zange traktiert und er wurde an Metallstäben aufgehängt. Später erfuhr Zelimkhan Chitigov, dass er im dem Innenministerium unterstehenden Zentrum für Extremismusbekämpfung in der Stadt Nazran gefoltert worden war.
Als er endlich einem Richter vorgeführt wurde, konnte Zelimkhan Chitigov nicht mehr gehen und brach im Gerichtssaal zusammen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und verbrachte dort zwei Monate unter Bewachung. Schliesslich wurde er entlassen, erhielt aber Reisebeschränkungen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht mehr laufen und nicht mehr sprechen, zudem litt er unter häufig auftretenden Panikattacken. Eine Diagnose ergab Verletzungen des Kopfes, der Wirbelsäule und der inneren Organe. Im Juli 2010 wurde eine Untersuchung seiner Vorwürfe im Hinblick auf Folter und geheime Haft eingeleitet; das Verfahren dauert noch an.
«Zelimkhan Chitigov ist einer von vielen, die in Inguschetien geschlagen und gefoltert wurden. Sein Fall ist nur insofern einzigartig, als dass es der einzige Fall ist, in dem einer der Verantwortlichen angeklagt wurde – doch die Anklage umfasst lediglich die geheime Haft, nicht aber die Foltervorwürfe», berichtet John Dalhuisen.
«Im Moment können die Opfer von Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus bezüglich einer unabhängigen gerichtlichen Untersuchung einzig auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hoffen. Doch das istein Prozess, der Jahre dauert und sich oft als gefährlich für die Kläger und Klägerinnen erwiesen hat. Die russischen Behörden müssen im eigenen Land Gerechtigkeit ermöglichen», sagt John Dalhuisen. «Niemand steht über dem Gesetz, schon gar nicht diejenigen, deren Aufgabe es ist, das Gesetz zu hüten. Die russischen Behörden müssen eine Politik der ‚Nulltoleranz’ gegenüber Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte entwickeln, indem sie unverzügliche und unparteiische Untersuchungen einleiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.»
Hintergrund
Inguschetien ist der kleinste Bestandteil der Russischen Föderation und zählt 413’000 EinwohnerInnen. Es grenzt im Süden an Georgien, im Osten an Tschetschenien und im Westen an Nordossetien. Inguschetien ist eines der ärmsten Gebiete der Russischen Föderation und hat mit 47,7 Prozent die höchste Arbeitslosenrate. 91 Prozent des Haushalts speisen sich aus direkten Subventionen der Russischen Föderation.
In Folge des bewaffneten Konflikts in Tschetschenien in den 1990er Jahren strömten mehr als 100’000 Flüchtlinge nach Inguschetien. Als sich der Tschetschenienkonflikt auf die Nachbarrepubliken ausweitete, nahmen in den letzten zehn Jahren auch in Inguschetien die Aktivitäten bewaffneter Gruppen zu und mündeten unter anderem in Mordversuchen an den Präsidenten Murat Zyazikov (April 2004) und Yunus-Bek Yevkurov (Juni 2009). Auch Zivilpersonen wurden zur Zielscheibe. Dies hatte zur Folge, dass unterschiedliche Sicherheitsorgane in der Republik aktiv wurden und regelmässige, meist kleinere Sicherheitsoperationen durchführten.
Medienmitteilung veröffentlicht: 21. Juni 2012
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