Der neue Bericht «'Agents of the people': Four years of 'foreign agents' law in Russia», pdf 35 Seiten ('Agenten für die Menschen': Vier Jahre Gesetz über 'ausländische Agenten' in Russland) beleuchtet, welch hohen Preis die russische Gesellschaft zahlt, wenn kritische Nichtregierungsorganisationen gezwungen werden, ihre Arbeit einzustellen, wertvolle Hilfs- und Dienstleistungen eingeschränkt und Kritik an der Regierung so weitreichend zum Schweigen gebracht wird, dass man von einem vorsätzlichen Angriff auf die Meinungsfreiheit sprechen kann.
Verliererin ist die russische Gesellschaft
«Das Gesetz über 'ausländische Agenten' wurde erarbeitet, um kritischen NGOs Ketten anzulegen, sie zu stigmatisieren und sie letztendlich zum Schweigen zu bringen. Viele unterschiedliche NGOs sind betroffen, aber auch individuelle Rechte und die Qualität der zivilgesellschaftlichen Diskussion sind auf der Strecke geblieben. Die Verlierer sind letztendlich nicht nur NGOs, sondern auch die russische Gesellschaft», sagt Sergei Nikitin, Direktor von Amnesty International in Russland.
In den vergangenen vier Jahren sind 148 Organisationen auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt worden, 27 von ihnen mussten ihre Arbeit vollständig einstellen. Diese NGOs spielten eine wichtige Rolle beim Schutz der Rechte von gewöhnlichen Menschen. Vielfach leisteten sie Unterstützung auf Gebieten, die von staatlichen Stellen vollkommen vernachlässigt werden, z.B. beim Umweltschutz oder bei rechtlichem Beistand und psychologischer Unterstützung für Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Diese wichtigen Beiträge zum Sozialleben in Russland sind nun entweder untersagt oder gefährdet, weil die betreffenden NGOs entweder jetzt schon oder kurz davor stehen, auf der Grundlage des Gesetzes von 2012 wegen ihrer «politischen Aktivitäten» als «ausländische Agenten» betrachtet zu werden.
Die Möglichkeiten der Finanzierung waren für Nichtregierungsorganisationen in Russland immer begrenzt, aber angesichts der Dämonisierung von NGOs in den russischen Medien ist die Beschaffung von finanziellen Mitteln jetzt noch schwieriger geworden. Das Gesetz über «ausländische Agenten» hat dafür gesorgt, dass die Finanzierung aus dem Ausland – und damit die einzige Alternative für NGOs – sehr unsicher geworden ist und sowohl erhebliche Risiken für das Ansehen der Organisation als auch strafrechtliche Konsequenzen mit sich bringen kann.
Es ist mehr als deutlich, dass es das Hauptziel der russischen Behörden war und ist, das Anwachsen einer kritisch eingestellten Zivilgesellschaft zu unterbinden und sie durch unterwürfige, abhängige Unterstützer der Regierungspolitik zu ersetzen. Diese Taktik der ‚verbrannten Erde‘ gegenüber der Zivilgesellschaft kann nicht im langfristigen Interesse Russlands sein», so Sergei Nikitin.
Verfolgung der Frauen vom Don
Der Angriff auf die Organisation Women of the Don Union (Vereinigung der Frauen vom Don) steht beispielhaft für die anhaltende Verfolgung einer NGO. Die Vereinigung der Frauen vom Don war eine der ersten Organisationen, die 2014 unter das Gesetz über «ausländische Agenten» fiel, als das russische Justizministerium die Befugnis erhielt, Organisationen zwangsweise auf seine Liste «ausländische Agenten» zu setzen.
Daraufhin gründeten die Aktivistinnen und Aktivisten eine neue Organisation, Foundation of the Don Women (Stiftung der Frauen vom Don), um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Im Oktober 2015 kam aber auch diese Organisation auf die Liste «ausländischer Agenten».
Am 24. Juni wurde Valentina Cherevatenko, die Gründerin und Vorsitzende der NGO, informiert, dass sie jetzt offiziell zur Verdächtigen gemäss Paragraf 330.1 des Strafgesetzbuchs erklärt worden sei. Nach Paragraf 330.1 ist die systematische Unterlassung von Verpflichtungen, die das Gesetz über Non-Profit-Organisationen mit der Funktion ausländischer Agenten vorschreibt eine Straftat. Wenn sie schuldig gesprochen wird, drohen Valentina Cherevatenko bis zu zwei Jahre Haft.
Das Gesetz muss aufgehoben werden
Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, das Gesetz über «ausländische Agenten» zurückzuziehen und alle willkürlichen Einschränkungen der Arbeit von NGOs aufzuheben.
«Die russischen Behörden sollten souverän genug sein, konstruktive Kritik zivilgesellschaftlicher Gruppen zu akzeptieren und zu lernen, mit ihnen und nicht gegen sie zu arbeiten. Der erste Schritt in diese Richtung ist die Aufhebung des Gesetzes über 'ausländische Agenten' und aller anderen willkürlichen Einschränkungen der Arbeit von NGOs», betont Nikitin.