Nur einen Monat nach der russischen Invasion in die Ukraine wurden nach Angaben der russischen Menschenrechtsgruppe Agora mindestens 60 Strafverfahren wegen friedlicher Proteste gegen den Krieg oder öffentlicher Kritik an den russischen Behörden eingeleitet. Gegen die Kritiker*innen wird auf der Grundlage von 14 verschiedenen Artikeln des Strafgesetzbuches ermittelt.
Kritiker*innen werden nicht nur wegen Diskreditierung der Streitkräfte angeklagt, sondern auch wegen Verleumdung, Betrug oder des Terrorismus beschuldigt. Marie Struthers, Direktorin von Amnesty International für Osteuropa und Zentralasien
«Die Verfolgung derjenigen, die sich gegen Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine aussprechen, geht weit über frühere Bemühungen hinaus, die Stimmen von Demonstrant*innen und Aktivist*innen zu unterdrücken», sagte Marie Struthers, Direktorin von Amnesty International für Osteuropa und Zentralasien. Diejenigen, die den Krieg kritisieren, werden mit einer absurden Anzahl von willkürlichen Anklagen konfrontiert, nur weil sie ihre Meinung sagen. Sie werden nicht nur wegen Diskreditierung der Streitkräfte angeklagt, sondern auch wegen Verleumdung, Betrug oder des Terrorismus beschuldigt».
Mindestens 46 Personen wurden strafrechtlich angeklagt, darunter neun, die in Gewahrsam genommen wurden, und drei, die unter Hausarrest gestellt wurden. Ihnen wird eine Vielzahl von «Verbrechen» vorgeworfen, darunter Beleidigung von Regierungsbeamt*innen, Verleumdung, Anstiftung zu extremistischen Aktivitäten, Anstiftung zu Massenunruhen, Hass und Betrug sowie die Schändung von Grabstätten.
Wegen Verbreitung von «Fake News» angeklagt
In mindestens zehn der Fälle wurde nach einem neuen Gesetz ermittelt, weil die Kritiker*innen die russischen Streitkräfte «diskreditiert» hätten. Nach dem neuen russischen Gesetz kann dies mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden, wenn die Kommentare «schwerwiegende Folgen» verursacht haben.
Am 4. März wurde dieses Gesetz einstimmig von beiden Kammern des russischen Parlaments verabschiedet und am selben Tag von Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. Am 22. März wurde das Gesetz dahingehend erweitert, dass auch die Verbreitung von «Fake News» über Aktivitäten russischer Regierungsvertreter*innen im Ausland unter Strafe gestellt wird.
Am 16. März wurde Veronika Belotserkovskaya, eine Gastronomie-Bloggerin mit 850'000 Instagram-Followern, als erste Person nach dem neuen Gesetz angeklagt. Ihr wurde vorgeworfen, «wissentlich falsche Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte zur Zerstörung von Städten und Attacken auf die ukrainische Zivilbevölkerung, einschliesslich Kindern», verbreitet zu haben.
Sergej Klokow, ein Techniker der Moskauer Stadtpolizei, war die erste Person, die im Rahmen dieses Gesetzes inhaftiert wurde, nachdem er am 18. März verhaftet worden war. Nach Angaben seines Anwalts wurde ihm vorgeworfen, in Telefongesprächen mit Bewohner*innen der Krim und der Region Moskau «Fake News» verbreitet zu haben.
Weitere Fälle folgten. Am 22. März wurde Aleksandr Nevzorov, ein prominenter Journalist, der während der Perestroika (einer Reihe staatlich genehmigter politischer Reformen in den 1980er Jahren) Popularität erlangte, angeklagt. Er solle «falsche Informationen» über die russischen Angriffe auf ein Entbindungskrankenhaus in Mariupol verbreitet haben, indem er den Beschuss am 9. März in einem Instagram-Post kritisierte.
Am 25. März wurde Izabella Yevloyeva, eine Journalistin aus der russischen Republik Inguschetien, angeklagt, nachdem sie einen Beitrag in den sozialen Medien geteilt hatte, in dem sie das kriegsfördernde «Z»-Symbol der russischen Streitkräfte als «Synonym für Aggression, Tod, Schmerz und schamlose Manipulation» bezeichnete.
Kriegsgegnerische Äusserungen werden auch auf der Grundlage anderer repressiver Artikel des Strafgesetzbuchs verfolgt. Am 18. März wurde Andrej Bojarschinow, ein Aktivist der Zivilgesellschaft aus Kasan, wegen «Rechtfertigung des Terrorismus» in zwei Fällen angeklagt und für zwei Monate unter Hausarrest gestellt, weil er in einem Telegram-Kanal Antikriegsbotschaften verbreitet hatte.
Am 24. März wurde Irina Bystrowa, eine Kunstlehrerin aus Petrosawodsk, wegen des Verbreitens von «Fake News» und der «Rechtfertigung von Terrorismus» angeklagt, die sie auf «VKontakte», einer russischen Website für soziale Medien, veröffentlicht hatte.
«Die fortwährende Kriminalisierung von 'Fake News' ist ebenso willkürlich und rechtswidrig wie die Bemühungen des Kremls, alle Formen der Kritik zu unterdrücken. Mit dieser unerbittlichen Hexenjagd zeigen die russischen Behörden, dass niemand vor einer Anklage gefeit ist. Diese schändlichen Verfolgungen verstossen gegen das Recht auf freie Meinungsäusserung», sagte Marie Struthers.
Inhaftiert wegen Anti-Kriegs-Graffiti
Während die öffentliche Kritik am Krieg zunimmt, haben die russischen Behörden auch versucht, Strassenkunst und Graffiti zu kriminalisieren. Mindestens neun Aktivist*innen und Strassenkünstler*innen wurden angeklagt, weil sie «hasserfüllte» Graffiti gestaltet haben − ein Verbrechen, für das bis zu drei Jahre Gefängnis drohen.
Am 18. März wurde Leonid Chernyi, ein Strassenkünstler aus Jekaterinburg, festgenommen, weil er Aufkleber mit der Aufschrift «GruZ 200» − dem offiziellen Codewort für militärische Opfer − angebracht hatte. Er wurde wegen «öffentlicher Trunkenheit» verhaftet und wegen «Vandalismus» angeklagt.
Dmitry Kozyrev, ein Einwohner von Tula, wurde am 20. März festgenommen, weil er «Krieg ist ein Requiem für den gesunden Menschenverstand» an die Wände des Kremls in Tula geschrieben hatte. Am 23. März wurde der in Sankt Petersburg lebende Nikolay Vorotnyov in Gewahrsam genommen, weil er die ukrainische Flagge auf eine Haubitze aus dem Zweiten Weltkrieg in einem Kriegsmuseum unter freiem Himmel gemalt hatte.
«Indem der Kreml jegliche Antikriegsstimmung mundtot macht, versucht er, diejenigen zu unterdrücken, die sich dem Konflikt widersetzen − oder zumindest den Eindruck zu erwecken, dass ein solcher Widerstand nicht existiert»
Amnesty International räumt zwar ein, dass die Behörden Graffiti rechtmässig ahnden können, stellt jedoch mit grosser Sorge fest, dass für politische Äusserungen besonders harte Strafen verhängt werden. «Das russische Strafrechtssystem wird als Instrument eingesetzt, um die freie Meinungsäusserung einzuschränken, abweichende Stimmen zu bestrafen und die Bevölkerung in Angst zu versetzen. Indem der Kreml jegliche Antikriegsstimmung mundtot macht, versucht er, diejenigen zu unterdrücken, die sich dem Konflikt widersetzen − oder zumindest den Eindruck zu erwecken, dass ein solcher Widerstand nicht existiert», sagte Marie Struthers. «Diese abscheuliche Kampagne der Repression gegen Kritiker*innen des Staates, die sich mutig gegen Russlands Invasion in der Ukraine wehren, muss jetzt aufhören. Alle Anklagen gegen diejenigen, die sich gegen den Krieg geäussert haben, müssen fallen gelassen werden, und alle Inhaftierten müssen sofort und bedingungslos freigelassen werden.»