Seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 haben die Restriktionen durch die russischen Behörden erheblich zugenommen. Die massive Unterdrückung der Antikriegsbewegung macht öffentlichen Protest sowie die Berichterstattung darüber praktisch unmöglich, hält Amnesty International in einem neuen Bericht fest (Russia: «You will be arrested anyway» – Reprisals against monitors and media workers reporting from protests, PDF 49 Seiten in Englisch) .
Darin dokumentiert die Menschenrechtsorganisation Dutzende von Fällen, in denen Journalist*innen und Menschenrechtsbeobachter*innen bei öffentlichen Protesten rechtswidrig in ihrer Arbeit behindert wurden. Die gegen sie ergriffenen Massnahmen reichen von Gewaltanwendung über willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen bis zu hohen Geldstrafen.
«Der Kreml verhindert, dass die Öffentlichkeit überhaupt von Protesten erfährt. So soll jede öffentliche Äusserung von Unzufriedenheit unterdrückt werden» Natalia Prilutskaya, Russland-Expertin bei Amnesty International
«Die russischen Behörden setzen alles daran, jeden noch so friedlichen Protest zu unterbinden und hart zu bestrafen. Sie versuchen ausserdem zu verhindern, dass solche Proteste überhaupt öffentlich bekannt werden», sagt Natalia Prilutskaya, Russland-Expertin bei Amnesty International.
Die russischen Behörden haben seit Beginn der Präsidentschaft von Wladimir Putin im Jahr 2000 das Recht auf friedlichen Protest nach und nach ausgehöhlt. Diejenigen, die versucht haben, dieses Recht wahrzunehmen, wurden immer härter bestraft. Heute ist Protest in Russland praktisch unmöglich. Obwohl ihnen hohe Geld- und Haftstrafen drohten, gingen im Februar 2022 Zehntausende auf die Strasse, um gegen den Einmarsch in die Ukraine zu protestieren. Als Reaktion verhängten die Behörden gegen zahlreiche Teilnehmer*innen die härtesten verfügbaren Strafen. Ausserdem ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen Medienschaffende und Menschenrechtsbeobachter*innen vor, die unabhängig über die Proteste berichteten.
«Bei den Protesten zur Unterstützung des zu Unrecht inhaftierten Oppositionspolitikers Aleksej Nawalny ein Jahr zuvor sind die Behörden genauso vorgegangen. Der Kreml verhindert, dass die Öffentlichkeit überhaupt von Protesten erfährt. So soll jede öffentliche Äusserung von Unzufriedenheit unterdrückt werden», sagt Natalia Prilutskaya.
Unterdrückung von Antikriegsberichterstattung
In den vergangenen Jahren haben die russischen Behörden ein Rechtssystem etabliert, das die Meinungsfreiheit massiv einschränkt. Das Risiko für Beobachter*innen und Medienschaffende ist erheblich erhöht, wenn sie über öffentliche Versammlungen berichten.
Bestimmte Gesetze schreiben vor, dass Journalist*innen bei Protesten «deutlich sichtbare Kennzeichen» tragen müssen, die sie als «Vertreter der Massenmedien» ausweisen.
Doch die Polizei fordert mehr. So sollen Medienschaffende, die über öffentliche Versammlungen berichten, «Auftragsbriefe einer Redaktion» oder ihren Reisepass bei sich führen. Die Behörden haben Journalist*innen vor der «Teilnahme» an bevorstehenden Protesten gewarnt. Sie nahmen Medienschaffende im Vorfeld, während und nach Kundgebungen, von denen sie berichteten, willkürlich fest. In vielen Fällen wurden die Festnahmen unter Anwendung von übermässiger und unrechtmässiger Gewalt durchgeführt, was Folter und anderen Misshandlungen gleichkommen könnte.
Nach Angaben der unabhängigen Gewerkschaft für Journalist*innen und Medienschaffende (die im September 2022 per Gerichtsbeschluss geschlossen wurde) wurden innerhalb einer Woche nach Ausbruch der Massenproteste gegen die Inhaftierung von Alexej Nawalny am 23. Januar 2021 mindestens 16 Medienschaffende festgenommen. Sieben Mitarbeiter*innen des Komitees gegen Folter, einer prominenten russischen Menschenrechts-NGO, wurden bei der Beobachtung der Proteste willkürlich und in einigen Fällen mit Gewalt festgenommen. In vielen Fällen standen Journalist*innen und Protestbeobachter*innen wegen «Teilnahme an einer nicht genehmigten öffentlichen Versammlung» vor Gericht und wurden zu Geldstrafen beziehungsweise zu 10 Tagen oder längerer sogenannter Verwaltungshaft verurteilt.
Die Repressalien gegen Protestbeobachter*innen und Medienschaffende eskalierten nach dem Einmarsch in die Ukraine weiter. Am 4. März 2022 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das das Recht auf freie Meinungsäusserung weiter einschränkt. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hatten die Behörden Strafverfahren gegen mindestens neun Journalist*innen und Blogger*innen wegen des damals neu eingeführten Straftatbestands der «Verbreitung falscher Informationen über die russischen Streitkräfte» (Paragraf 207, Absatz 3 des Strafgesetzbuchs) eingeleitet. Einige Medienschaffende wurden auch wegen «Verunglimpfung der im Ausland stationierten russischen Streitkräfte» (Paragraf 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten) strafrechtlich verfolgt, nachdem sie Informationen über den Krieg in der Ukraine verbreitet hatten.
Nach dem neuen Gesetz kann ein Medienbericht, der eine Antikriegsbotschaft enthält oder zitiert, schnell zu einem möglichen Verfolgungsgrund werden. So wurden im Juni und Juli 2022 Vechernie Vedomosti, ein unabhängiges Medienunternehmen in Jekaterinburg, und dessen Herausgeberin Guzel Aitukova zu einer Geldstrafe von 450‘000 Rubel (7081 Schweizer Franken) verurteilt, weil sie ein Foto von Antikriegsaufklebern und andere Bilder gegen die Invasion veröffentlicht hatten.
In zwei weiteren Fällen gingen die Behörden gegen mehrere Mitarbeiter*innen der Nachrichtenteams von Dovod, einem unabhängigen Online-Medienunternehmen in Wladimir, und Pskovskaya Guberniya, einer Zeitung in Pskow, vor, weil sie über Antikriegsproteste berichtet hatten. Die Polizei durchsuchte die Wohnungen diverser Journalist*innen und die Redaktionsräume und beschlagnahmten Computer, Telefone und andere technische Geräte.
Die fortwährenden Angriffe auf die freie Presse wegen der Berichterstattung über die russische Invasion in der Ukraine und die Aktivitäten der Antikriegsbewegung haben zu einer Abwanderung Hunderter Journalist*innen aus Russland geführt. Der unabhängige Fernsehsender TV Rain und die Zeitung Novaya Gazeta waren gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Der Radiosender Echo Moskwy, der als Plattform für einige der kritischsten Stimmen Russlands diente, wurde von den Behörden geschlossen.
Solidarität mit verfolgten Kritiker*innen
Das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstrierende, Medienschaffende und unabhängige Menschenrechtsbeobachter*innen muss sofort beendet werden. Die repressiven russischen Gesetze, die das Recht auf freie Meinungsäusserung einschränken, müssen abgeschafft werden, fordert Amnesty International.
«Wir brauchen eine wirksame Kontrolle durch die internationale Gemeinschaft. In so düsteren Zeiten wie diesen ist es von grösster Wichtigkeit, der bedrängten russischen Zivilgesellschaft und den unabhängigen Medien die Hand zu reichen und diejenigen zu unterstützen, die die Missstände im Land beobachten und darüber berichten», sagte Natalia Prilutskaya.