Das Lehrbuch, das vor Klischees der offiziellen russischen Propaganda nur so strotzt und versucht, Russlands illegale Handlungen zu rechtfertigen, die von der Annexion der Krim im Jahr 2014 bis zur vollständigen Invasion der Ukraine im Jahr 2022 reichen, wird ab dem heutigen Schulstart ein obligatorischer Teil des Lehrplans für Gymnasiast*innen in ganz Russland und in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine sein.
«Die Indoktrination von Kindern in einem sensiblen Stadium ihrer Entwicklung ist ein zynischer Versuch, die ukrainische Kultur, das ukrainische Erbe und die ukrainische Identität auszulöschen, und stellt ausserdem eine Verletzung des Rechts auf Bildung dar.» Anna Wright, Amnesty International-Rechercheurin für Osteuropa und Zentralasien
«Das Lehrbuch verschweigt die Wahrheit und stellt die Fakten über die schweren Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtlichen Verbrechen, die von den russischen Streitkräften gegen die Ukrainer*innen begangen wurden, falsch dar», sagte Anna Wright, Amnesty International-Rechercheurin für Osteuropa und Zentralasien. «Die Indoktrination von Kindern in einem sensiblen Stadium ihrer Entwicklung ist ein zynischer Versuch, die ukrainische Kultur, das ukrainische Erbe und die ukrainische Identität auszulöschen, und stellt ausserdem eine Verletzung des Rechts auf Bildung dar.»
Russische Propaganda im Lehrplan
Das Lehrbuch, das sich an ältere Gymnasiast*innen richtet, stellt Russland als Opfer einer westlichen Verschwörung und nicht als Aggressor dar. Darin wird behauptet, dass NATO-Berater*innen die Ukraine vor dem vollständigen Einmarsch Russlands in die Ukraine aktiv auf einen «Angriff auf den Donbas» vorbereitet haben, eine Anspielung auf die Gebiete in der Ostukraine, die seit 2014 unter russischer Besatzung stehen.
Im Lehrbuch heisst es auch, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine zu einem zerstörerischen Krieg und «möglicherweise zum Ende der Zivilisation» hätte führen können, was Russland unbedingt verhindern musste. Ebenfalls wird behauptet, dass es sich bei dem Einmarsch Russlands in die Ukraine um eine «spezielle Militäroperation» handelt. Präsident Wladimir Putin wird am 24. Februar 2022, als er den Einmarsch befahl, mit den Worten zitiert: «Dies ist eine Frage von Leben und Tod. Es ist die Frage unserer historischen Zukunft als Volk.»
Während den Kindern in Russland und den besetzten Gebieten der Ukraine das Recht auf eine qualitativ hochwertige Bildung verweigert wird − mehr als 500 ukrainische Schulen stehen jetzt unter russischer Kontrolle −, werden durch die Fehlinformationen in dem Lehrbuch auch die Rechte der ukrainischen Bürger*innen auf kulturelles Erbe und Identität angegriffen.
Als Besatzungsmacht ist Russland an seine Verpflichtungen als Vertragsstaat des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und des Übereinkommens über die Rechte des Kindes gebunden. Dazu gehört die Verpflichtung, das Recht auf Bildung zu achten, zu schützen und zu verwirklichen und dieses Recht nicht durch Indoktrination der Schüler*innen mit Propaganda zu verletzen.
Drohungen gegen ukrainische Eltern und Lehrpersonen
Eltern, Lehrpersonen und Schüler*innen in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine drohen Gewalt, willkürliche Inhaftierung und Misshandlung, weil sie sich weigern, dem russischen Lehrplan zu folgen, der im September 2022 in den Schulen eingeführt wurde.
Die Besatzungsbehörden verfügen über die Namen und Adressen der Kinder im schulpflichtigen Alter, die in ihren Gebieten wohnen. Beamt*innen des Bildungsministeriums können bei ihnen zu Hause auftauchen und die Anwesenheit des Kindes in der Schule verlangen. Sie drohen oft mit Sanktionen, wenn sich die Eltern weigern, ihre Kinder in Schulen zu schicken, in denen nach dem russischen Lehrplan unterrichtet wird.
Die russischen Strafverfolgungsbehörden führen routinemässige Kontrollen privater elektronischer Geräte durch, und wenn sie Inhalte oder Software entdecken, die für den Online-Unterricht nach dem ukrainischen Lehrplan verwendet werden, kann dies schwerwiegende Folgen haben, einschliesslich Verhaftung und Misshandlung.
Jurij* (Name geändert), ein dreifacher Familienvater aus einem Dorf in der Nähe von Nowa Kachowka, sagte, dass seine Tochter nach der russischen Invasion dazu übergegangen sei, den ukrainischen Lehrplan online zu lernen, und dass sie dies auch nach der Einführung des russischen Lehrplans in den Schulen weiterhin tue. Im Oktober 2022, wenige Tage nach dem Besuch eines russischen Beamten in seinem Haus, der Jurij fragte, warum seine Tochter nicht persönlich am Unterricht teilnimmt, wurde Jurij von den russischen Behörden willkürlich festgenommen, weil er sein Kind nicht in eine russische Schule schicken wollte. Er wurde sechs Tage lang festgehalten und misshandelt.
Mariya* aus Nova Khakovka, die die russisch besetzten Gebiete der Ukraine im September 2022 verlassen hat, berichtete Amnesty International, dass ihrer Tochter das Telefon von russischen Soldaten aus der Hand gerissen wurde, als es ein Lied auf Ukrainisch als Klingelton abspielte.
Einige Lehrpersonen in den besetzten Gebieten weigern sich, den russischen Lehrplan zu unterrichten, obwohl sie damit ihre eigene Sicherheit aufs Spiel setzen. Alina*, eine Geschichtslehrerin aus Izium, erzählte Amnesty International, dass sie während der Monate der russischen Besetzung Angst hatte, ukrainische Geschichte zu unterrichten, und ihre Lehrbücher zu Hause versteckte. Bei Wohnungskontrollen, die russische Soldaten in ihrem Viertel durchführten, deckte sie ihre Lehrbücher, Karten, die die Krim als Teil der Ukraine zeigten, und andere Unterrichtsmaterialien mit einer Decke zu. Nachdem ihr Wohnblock durch Beschuss beschädigt worden war, plünderten russische Soldat*innen das Gebäude. Alina sagte gegenüber Amnesty International, sie habe Glück gehabt, dass ihre Bücher bei der Durchsuchung ihrer Wohnung nicht entdeckt wurden.