Die russische Künstlerin Alexandra Skochilenko wird von Polizeibeamten eskortiert, nachdem sie im November 2023 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie Russlands Offensive in der Ukraine kritisierte hatt. © Olga Maltseva / AFP via Getty Images
Die russische Künstlerin Alexandra Skochilenko wird von Polizeibeamten eskortiert, nachdem sie im November 2023 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie Russlands Offensive in der Ukraine kritisierte hatt. © Olga Maltseva / AFP via Getty Images

Russland Inhaftierten Dissident*innen wird Kontakt zur Familie verweigert

Medienmitteilung 26. Juni 2024, London/Bern – Medienkontakt
Die russischen Behörden verweigern willkürlich inhaftierten Dissident*innen systematisch den Kontakt zu ihren Familien, wie Amnesty International in einem neuen Bericht zeigt. Regierungskritiker*innen und Gegner*innen des Kriegs gegen die Ukraine werden gezielt isoliert und vom Kontakt zur Aussenwelt abgeschnitten.

«Es handelt sich nicht um vereinzelte Praktiken, die von einigen wenigen korrupten Beamten angewandt werden. Dies ist eine gezielte Strategie der russischen Regierung, um Andersdenkende zu isolieren, sie zum Schweigen zu bringen und ihnen und ihren Familien weiteres Leid zuzufügen. Alle Formen des Kontakts – Besuche, Telefonate, Briefe – werden eingeschränkt», sagte Natalia Prilutskaya, Autorin des Berichtes «Russia: ‘I would love to hug her but it’s impossible’. Imprisoned dissenters deprived of family contact» und Russland-Researcherin von Amnesty International.

Die Behörden wenden eine Reihe von Taktiken an, um Gefangenen willkürlich den Kontakt zu ihren Familien und Freunden zu verwehren. Eine Methode besteht darin, Besuchs- und Telefonanfragen während der Untersuchungshaft systematisch abzulehnen, oft ohne Angabe von Gründen. In anderen Fällen werden Familienmitglieder als «Zeugen» im Prozess gegen eine*n Angehörige*n benannt, wodurch jeglicher Kontakt ausgeschlossen wird. In solchen Fällen können Familien ihre Nächsten monatelang oder sogar jahrelang nicht sehen. Die Behörden können auch die Post von Inhaftierten und Gefangenen verzögern oder den Schriftverkehr mit bestimmten Personen ganz verbieten.  

Eine weitere Taktik ist die unangekündigte Verlegung von Häftlingen aus der Untersuchungshaft in Strafanstalten am Vorabend eines geplanten Familienbesuchs, der dann abgesagt wird. Solche Verlegungen bedürfen der gerichtlichen Genehmigung durch dasselbe Gericht, das auch den Besuch genehmigt, was diese Praxis noch zynischer macht.

Eine von den Strafvollzugsbehörden häufig angewandte Form der Schikane besteht darin, einen Häftling kurz vor einem geplanten Familienbesuch willkürlich in eine Arrestzelle zu stecken, weil er angeblich einen geringfügigen, oft erfundenen Disziplinarverstoss begangen hat. Für die Dauer der Strafe sind jegliche Besuche und Telefonate untersagt.

Durch solche Praktiken werden nicht nur die inhaftierten Oppositionellen zusätzlich bestraft. Auch ihre Familien werden schwerem psychischem Leid ausgesetzt.

«Durch ungerechtfertigte Haft und die zusätzliche Isolation zerstören die Behörden das Leben unschuldiger Menschen.» Natalia Prilutskaya, Russland-Researcherin von Amnesty International

«Diese Taktiken sind absolut unmenschlich. Durch ungerechtfertigte Haft und die zusätzliche Isolation zerstören die Behörden das Leben unschuldiger Menschen. Diese grausame Misshandlung muss sofort aufhören, und alle, die nur wegen der Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäusserung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung inhaftiert sind, müssen freigelassen werden», sagte Natalia Prilutskaya. 

Emblematische Fälle

Dem Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Murza, der im April 2022 verhaftet und wegen mehrerer erfundener Anklagepunkte zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, wurde 14 Monate lang die Erlaubnis verweigert, seine Frau und seine Kinder anzurufen. «Das Schwierigste [in der Haft] ist die Trennung von der Familie», sagte Wladimir Kara-Murza in einem Interview, das über seinen Anwalt veröffentlicht wurde.

Aleksandra (Sasha) Skochilenko, eine Künstlerin aus Sankt Petersburg, wurde im April 2022 wegen ihres Anti-Kriegs-Aktivismus verhaftet und zu sieben Jahren Haft verurteilt. Sie war ein Jahr lang von ihrer Partnerin Sonya getrennt, die in dem Fall als «Zeugin» benannt worden war. «Nach einem Jahr der Trennung bin ich so froh, dass ich Sasha sehen kann. Ich würde sie so gerne umarmen, aber das ist unmöglich», sagte Sonya gegenüber Amnesty International.

Oleg Orlov, ein Menschenrechtsverteidiger und Co-Vorsitzender von Memorial, wurde im Februar 2024 wegen eines Artikels, in dem er die russischen Behörden kritisierte, zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine Frau durfte ihn erst im April besuchen, aber kurz bevor sie ihn besuchen konnte, wurde Oleg Orlov von einem Moskauer Untersuchungsgefängnis in eine andere Region verlegt, die mehr als 1’000 km entfernt ist.

Aleksei Gorinov, ein Stadtrat von Moskau, wurde im April 2022 festgenommen und zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er während einer Stadtratssitzung den Krieg Russlands in der Ukraine kritisiert hatte. Während seiner Haftzeit wurde er wiederholt wegen geringfügiger angeblicher Verstösse in eine Strafzelle verlegt, unter anderem kurz vor einem geplanten Besuch. Dies führte dazu, dass seine Familie in die Strafkolonie reiste, um dort einen Besuch zu machen, der ihr jedoch verweigert wurde.

Verstösse gegen das Völkerrecht

Das Recht von Inhaftierten auf Kontakt zur Aussenwelt ist in internationalen Menschenrechtsstandards verankert. Die Verweigerung des Kontakts zu Familien verstösst gegen diese Standards und kann grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe gleichkommen. In gewissen Fällen handelt es sich möglicherweise um Incommunicado-Haft (Inhaftierung ohne Kontakt zur Aussenwelt) oder um erzwungenes Verschwindenlassen.

Der Bericht beleuchtet die systematische und weit verbreitete Praxis der Isolation und des Entzugs des Kontakts zur Aussenwelt.

Amnesty International fordert die russischen Behörden auf, alle Personen, die allein aufgrund der Ausübung ihres Rechts auf Versammlungs-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit inhaftiert sind, unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Die Behörden müssen sicherstellen, dass alle Inhaftierten und Gefangenen regelmässigen Kontakt zu ihren Familien halten können. Die Strafgesetzgebung sollte geändert werden, um willkürliche Kontaktverbote zu verhindern. Die Behörden sollten alle gemeldeten Menschenrechtsverletzungen untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht stellen.

Der Bericht beleuchtet die systematische und weit verbreitete Praxis der Isolation und des Entzugs des Kontakts zur Aussenwelt für diejenigen, die in Russland wegen abweichender Meinungen inhaftiert sind. Diese Praktiken sind keine Einzelfälle, sondern Teil einer umfassenderen, politisch motivierten Strategie der russischen Behörden, die darauf abzielt, die freie Meinungsäusserung zu unterdrücken und diejenigen zu bestrafen, die sich gegen die Regierung aussprechen.