Nothilfezentrum Zürich-Altstetten. © Jacek Pulawski
Nothilfezentrum Zürich-Altstetten. © Jacek Pulawski

«Nothilfe für alle?» – Eine Schande für die Schweiz!

Medienmitteilung veröffentlicht: 31. Mai 2012, Amnesty International, Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Solidarité sans Frontières
Die von asylfeindlichen Kreisen angestrebte und nun durch ein BFM-Gutachten unterstützte Ausweitung des Nothilferegimes auf sämtliche Asylbewerber ist eine Schande für die Schweiz: Das halten Amnesty International, die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht sowie Solidarité sans Frontières fest. Sie fordern eine unabhängige Prüfung der Frage, ob ein Ausschluss aller Asylsuchenden aus der Sozialhilfe menschenrechtskonform ist.

Einmal mehr versuchen Politiker auf Kosten der Schwächsten Politik zu machen: Flüchtlinge und Asylsuchende sollen von Beginn weg in eine prekäre soziale Lage gebracht und also dafür bestraft werden, dass sie es wagen, den Schutz der Schweiz zu erbeten. Die Initianten versprechen sich davon eine «abschreckende Wirkung».

Der Vorschlag einer Minderheit der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates (SPK-N), alle Asylsuchenden bereits während des Verfahrens von der stark reduzierten Sozialhilfe auszuschliessen, hat heute Schützenhilfe vom Bundesamt für Migration (BFM) erhalten: In einem Gutachten kommt das BFM zum Schluss, der Vorschlag sei zulässig und völkerrechtskonform.

Die unterzeichneten Organisationen sehen dies anders. Im Rahmen einer landesweiten Kampagne haben sie bereits letztes Jahr auf die unhaltbaren Zustände aufmerksam gemacht, die das Nothilferegime auslöst. Heute wird dieses Regime auf abgewiesene Asylsuchende angewandt, um sie zur Ausreise zu bewegen. Während es als Massnahme versagt hat, bedeutet das Nothilferegime jedoch für die Betroffenen alltägliches Leid und hat für sie gravierende psychische und physische Folgen.

Dieses Regime nun auf alle Menschen auszudehnen, die ihr Recht auf Asylsuche wahrnehmen, widerspricht der bisher von allen Parteien vertretenen humanitären Tradition der Schweiz und trifft auch diejenigen, denen die Schweiz Schutz gewähren will und muss. Immerhin erhalten derzeit mindestens 40 Prozent der Gesuchstellenden nach dem Verfahren ein Bleiberecht, weil sie schutzwürdig sind. Diese Personen zu prekarisieren und zu bestrafen ist völlig widersinnig, ihre spätere Integration wird dadurch erschwert, ja blockiert.

Es ist zynisch, wenn das BFM in seinem Gutachten zum Schluss kommt, der Sozialhilfeausschluss sei verfassungs- und völkerrechtskonform, und sei nicht schikanös, weil er ja für alle gelten solle. Menschen nur aus politischen Gründen schlecht zu behandeln und zu bestrafen, widerspricht klar den Grundsätzen unserer Verfassung und dem Völkerrecht. Sollten Asylsuchende im laufenden Verfahren den gleichen drastischen Abschreckungsmassnahmen unterworfen werden wie abgewiesene Asylsuchende, so würde dies nichts anderes bedeuten, als dass die Schutzbedürftigkeit aller Asylsuchender von vornherein in Frage gestellt wird.

Für die Schweiz, die sich gerne als Vorreiterin für die Menschenrechte sieht, wäre eine solche menschenunwürdige Behandlung von rund 20‘000 Personen jährlich eine Schande. Dies umso mehr, als damit kein einziges Problem gelöst würde. Die beiden Minderheitsanträge der SPK-N in Bezug auf Absatz 3 des Art. 82 AsylG müssen deshalb vom Nationalrat in der kommenden Beratung zwingend abgelehnt werden.

Die Organisationen kritisieren im Übrigen die Tatsache, dass die Staatspolitische Kommission das BFM mit diesem Gutachten beauftragt hat. Das BFM ist im Asylverfahren Partei und somit in keiner Weise eine neutrale und unabhängige Instanz, was ihre Schlussfolgerungen fragwürdig erscheinen lässt. Die Organisationen fordern die Entscheidungsträger auf, die Frage der Menschenrechtskompatibilität durch ein Gutachten beim Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte abklären zu lassen, das unter anderem für solche Fragen geschaffen wurde.

Hintergrundinformationen

Mit einer «Kampagne gegen das unwürdige Nothilferegime» haben im Jahr 2011 Amnesty International, die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH, die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Solidarité sans Frontières, der Verein Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers, Bleiberecht Bern und weitere Organisationen auf die Situation von abgewiesenen Asylsuchenden hingewiesen. 20‘000 Unterschriften wurden gegen das menschenwürdige Nothilferegime gesammelt: www.nothilfe-kampagne.ch