Schweiz Tendenziöse Debatte über die Burka im Tessin

Kolumne von Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz,  17. September 2013.
Ich bin nicht religiös, und manchmal wundere ich mich über Leute, die ihren Glauben in der Öffentlichkeit zur Schau tragen, mit einem Kreuz um den Hals oder einem Kleber auf dem Auto. Ich bin nicht Muslimin, und es fällt mir schwer, zu verstehen, warum praktizierende Frauen sich die Haare bedecken. Noch weniger verstehe ich, wie frau sich von Kopf bis Fuss in eine Burka oder einen Nikab hüllen kann. Aber muss das, was mich stört, deswegen verboten werden?

Manon Schick Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz. © AI

Am 22. September stimmt der Kanton Tessin über eine Initiative ab, die ein Vermummungsverbot im öffentlichen Raum fordert. Das Ziel ist offensichtlich: Es geht nicht um Fastnachtsmasken, sondern um den Vollschleier von Musliminnen.

Klar, niemand darf dazu gezwungen werden, ein bestimmtes Kleidungsstück zu tragen, weder durch den Staat noch durch Einzelpersonen. Das wäre eine Verletzung der individuellen Freiheit. Aber jemandem zu verbieten, öffentlich seinen oder ihren Glauben zu manifestieren, ist ebenfalls eine Verletzung dieser Freiheit. Die Menschenrechte sichern jedem Mann und jeder Frau das Recht zu, religiöse Symbole zu tragen oder auch nicht.

Die Tessiner Initianten behaupten, es ginge ihnen um die Emanzipation der Musliminnen. Gewiss, jene Interpretation des Korans, wonach Frauen sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern haben, entspricht ohne Zweifel einem patriarchalen Gesellschaftmodell, in dem die Frau dem Mann untertan ist. Daraus zu schliessen, dass alle, die einen Vollschleier tragen, unterdrückte Frauen sind, ist allerdings falsch. Ebenso falsch ist die Behauptung, ein Burkaverbot würde generell zu ihrer Emanzipation beitragen. Die Mechanismen der Frauendiskriminierung sind leider weit komplexer – übrigens nicht nur in der islamischen Religion.

Ein Burkaverbot liefe im Gegenteil darauf hinaus, dass muslimische Frauen nicht mehr aus dem Haus gehen könnten, weil sie Sanktionen befürchten müssten.  Sie wären damit noch mehr isoliert und stigmatisiert. Besser wäre es, ihre gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten zu verbessern, statt sie noch mehr auszuschliessen.

Von wie vielen Frauen sprechen wir hier überhaupt? Will der Tessin wirklich arabische Touristinnen büssen, die Lugano besuchen? Oder würde das Gesetz nur für die Frauen gelten, die im Kanton wohnen? So oder so ist es fraglich, ob eine solche kantonale Verfassungsänderung am Ende vom eidgenössischen Parlament gutgeheissen würde. Letztes Jahr wurde eine Aargauer Standesinitiative, die ein Vermummungsverbot forderte, von der Bundesversammlung abgelehnt.

Die Schweiz muss unter allen Umständen die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gewährleisten. Schade, dass manche Leute sich nur dann um die Rechte von Frauen kümmern, wenn es darum geht, dass eine Handvoll von ihnen ein Stück Stoff auf dem Kopf trägt. Volksinitiativen zur Verbesserung der Situation von Opfern häuslicher Gewalt oder von ausgebeuteten Migrantinnen sind demgegenüber selten, während ihre Zahl doch weit höher ist.