Die Asylrechtsexpertin von Amnesty Schweiz, Denise Graf. | © René Worni/AI
Die Asylrechtsexpertin von Amnesty Schweiz, Denise Graf. | © René Worni/AI

Asylpolitik Schweiz Es braucht eine andere Flüchtlingspolitik

27. Oktober 2015
Statement von Denise Graf, Asyl-Expertin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International.

Rückschiebungen aufs offene Meer, tagelanges Festhalten von Familien mit Kindern in Transitzonen oder gar Gefängnissen, verbale und handgreifliche Gewalt durch Grenzbeamte, Schüsse, Tränengas und Wasserwerfer gegen Flüchtlinge: Inzwischen berichten Expertinnen und Experten von Amnesty International, die vor Ort sind, fast täglich von immer drastischeren und immer zahlreicheren Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen.

Aufgrund des jüngsten Bericht zu Ungarn vom 8. Oktober 2015, der mehrfache Verletzungen des Völkerrechts dokumentiert, forderte Amnesty International alle europäischen Länder auf, jegliche Wegweisungen nach Ungarn umgehend einzustellen: Die Aufnahmebedingungen sind menschenunwürdig, ein faires Asylverfahren ist nicht gewährleistet, und nachdem Ungarn Serbien zu einem «safe country» erklärt hat, droht den Flüchtlingen die sofortige Abschiebung.

Die Aufforderung, keine Flüchtlinge mehr nach Ungarn zurückzuschicken, haben wir am 15. Oktober 2015 auch an die Schweiz gerichtet. Doch auf unser Schreiben an Staatssekretär Mario Gattiker vom Staatssekretariat für Migration SEM haben wir bisher nicht einmal eine Antwort erhalten.

Das kann so nicht weiter gehen: Die Antwort auf die Flüchtlingskrise darf nicht in immer weiteren Verschärfungen der Grenzkontrollen, im Anwerben von Nachbarstaaten als Grenzwächter und in Rückschiebungen nach einem nicht mehr funktionierenden Dublin-Prinzip bestehen. Der Befund von Amnesty International ist klar: Das europäische Asylsystem hat versagt und muss dringend revidiert werden.

Die Bearbeitung von Asylanträgen und die Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden durch EU-Mitgliedsstaaten muss mit internationalen Menschenrechtsverpflichtungen übereinstimmen. Gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention muss jede Person, die Anspruch auf Schutz hat, diesen auch erhalten. Deshalb kann auch kein Herkunftsland generell als «sicher» eingestuft werden, denn das Konzept einer Liste «sicherer Herkunftsstaaten» läuft dem Anspruch eines Asylsuchenden auf ein faires und effizientes Asylverfahren zuwider.

Auch die Schweiz muss die Menschenrechte der hier gestrandeten Flüchtlinge einhalten, statt sie mit einer strengen Dublin-Doktrin erneut zu Opfern zu machen. Stattdessen hat das SEM, wie Sie den Statistiken in unserer Dokumentation entnehmen können, in den letzten sechs Monaten etwas mehr als dreieinhalb Tausend Dublin-Wegweisungen verfügt – dies im Wissen, dass weniger als ein Drittel dieser Wegweisungen vollzogen werden können. Als Folge dieser Politik werden heute Tausende von Asylsuchenden während Monaten in Nothilfezentren ausgegrenzt und erst nach der Feststellung, dass sie nicht mehr nach Italien oder Ungarn zurückgeschickt werden können, wieder ins System aufgenommen. Einer Integration als Voraussetzung einer erfolgreichen Wiederansiedlung läuft dies diametral entgegen.

Opfer dieser Politik sind vor allem die Eritreer, die zu weniger als 6.5 % in die Erstaufnahmeländer (vor allem nach Italien) zurückgeschickt werden konnten, aber auch Syrerinnen und Syrer (weniger als 20%) und Afghaninnen / Afghanen (weniger als 15%). Nachdem sie monatelang über das Dublin-Verfahren ausgegrenzt werden, werden sie zwar formell ins Asylverfahren aufgenommen, jedoch aufgrund der am 24. September angekündigten Prioritätensetzung nicht einmal zu ihren Asylgründen befragt, da ihr Asylverfahren bis auf unbestimmte Zeit suspendiert ist.

Der Weg zu einer menschenwürdigen Bewältigung der gegenwärtigen Flüchtlingskrise ist noch lang - aber er führt nicht an einer anderen Flüchtlingspolitik vorbei.  

Statement von Denise Graf an der gemeinsamen Medienkonferenz von Amnesty International, der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Solidarité sans frontières, der Rechtsberatungsstellen Copera und der Bürgerbewegung Collectif R am 27. Oktober 2015
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