Ein parlamentarischer Vorstoss, der den Bundesrat dazu verpflichten wollte, die Rückführungen nach Ungarn zu stoppen, war letzte Woche noch im Nationalrat von einer Mehrheit abschmettert worden. Jetzt hat das Bundesverwaltungsgericht (pdf-Link) die Überstellungen aufgrund der unsicheren Lage gestoppt und das SEM verpflichtet, die Asylsituation in Ungarn sorgfältig abzuklären. Das Staatssekretariat muss prüfen, ob Rückführungen gemäss Dublin-Verordnung aufgrund der dortigen gesetzlichen und humanitären Situation noch zulässig sind.
«Wir fordern, dass jetzt nicht mehr nur Überstellungen gestoppt werden, sondern endlich hier in der Schweiz auf die Asylgesuche eingegangen wird», sagte Denise Graf, Asylrechtsexpertin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International. «Die Leute, darunter viele syrische Flüchtlinge, sind am Ende ihrer Kräfte. Einige warten seit fast zwei Jahren auf einen Eintretensentscheid. Die Menschen werden in der Schwebe gelassen. Vor allem für die Entwicklung der Kinder ist diese Warterei Gift».
Unmenschliche Bedingungen
Ungarn hat im März als neueste Abschreckungsmassnahme die Internierung sämtlicher Asylsuchender in Transitzonen verhängt. Sogar Minderjährige ab 14 Jahren werden seither in geschlossenen Lagern an der Grenze zu Serbien eingepfercht. Anderen droht die Abschiebung nach Serbien.
«Die Lage der Asylsuchenden in Ungarn ist hoffnungslos. Sie leben hinter Stacheldraht, in ständiger Angst und ohne zu wissen, was mit ihnen geschieht. Auch Asylsuchende, die aus der Schweiz zurückgewiesen werden, drohen in diesen Lagern zu landen», sagte Denise Graf.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte bereits Anfang 2016 entschieden, alle hängigen Dublin-Ungarn-Fälle zu sistieren, bis neue Abklärungen des SEM zur Situation in Ungarn vorliegen. Trotzdem wurden 2016 noch 65 Asylsuchende nach Ungarn überstellt. Auch 2017 hielt sich das SEM nicht zurück und überstellte bis Ende April 10 Personen, 3 davon im April.
Amnesty kritisierte die unwürdige Behandlung von Asylsuchenden in Ungarn wiederholt scharf. In einem Bericht vom September 2016 dokumentierte Amnesty, wie Tausende von Asylsuchenden, darunter auch unbegleitete Minderjährige, der Willkür der ungarischen Behörden schutzlos ausgeliefert sind. Sie werden Opfer von Misshandlungen und willkürlichen Verhaftungen. Die Menschen harren unter schlimmsten Bedingungen monatelang aus, ohne zu wissen, was mit ihnen passieren wird. Viele, die es bis nach Ungarn geschafft haben, werden zurück nach Serbien geschickt oder illegal in Lagern festgehalten.
Sture Anwendung der Dublin-Verordnung
Die Schweiz ist dasjenige Land in Europa, das seit 2009 am meisten Dublin-Überstellungen vorgenommen hat: Über 26‘680 Personen wurden zwischen 2009 und Ende 2016 in andere europäische Länder zurückgeschickt. Das sind mehr als 13,6 Prozent aller Asylsuchenden, die in die Schweiz gelangt sind. Im Vergleich dazu belaufen sich die Rücksendungen Deutschlands, einem der beliebtesten Zielländer, auf nur rund 3 Prozent der Antragstellerinnen und Antragsteller.
Amnesty International ruft den Bundesrat dazu auf, die Dublin-Verordnung in der Schweiz grosszügig zu handhaben. In einem nationalen Appell fordert Amnesty International gemeinsam mit den Organisationen Solidarité Tattes, Collectif R, Solidarité sans frontières, Droit de Rester und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Bundesrat, dass die Schweiz in Härtefällen und / oder aus humanitären Gründen vermehrt selbst auf Asylgesuche eintritt.
Dublin-Rückschaffungen sollen vermieden werden, wenn Asylsuchende für Kleinkinder oder bereits eingeschulte Kinder verantwortlich sind, Familienangehörige haben, die bereits in der Schweiz leben, im Ausland nicht ausreichend medizinisch betreut werden können oder einen Härtefall darstellen. Die kantonalen Behörden sollen zudem beim Vollzug von Dublin-Rückschaffungen internationales Recht und insbesondere die Uno-Kinderrechtskonvention respektieren.
Urteil D-7853/2015 vom 31. 5. 17