Amtliche Bezeichnung: Schweizerische Eidgenossenschaft
Bundespräsident/in: Ueli Maurer
Überblick
Asyl und Flüchtlinge
Kriminalisierung der Solidarität
Frauenrechte
Menschenrechte & Sicherheit
Gefangenenrechte
Waffenkontrolle
LGBTI*-Rechte
Wirtschaft und Menschenrechte
Nationale Menschenrechtsinstitution
Asyl und Flüchtlinge
Das neue Asylgesetz ist am 1. März 2019 in Kraft getreten. Seither werden die Asylverfahren beschleunigt in den Bundeszentren der sechs Asylregionen durchgeführt. Die Asylsuchenden erhalten in den neuen Verfahren zudem eine unentgeltliche Beratung und Rechtsvertretung, weshalb Amnesty die Neuerungen insgesamt unterstützt hatte.
Im ersten Jahr hat die Menschenrechtsorganisation jedoch auch Defizite und Herausforderungen festgestellt: Wie mindestens 50 Rückweisungsentscheide des Bundesverwaltungsgerichts zeigen, scheint die Beschleunigung noch zu oft zu Lasten der Qualität der Asylentscheide zu gehen. Bis jetzt fehlt ein verlässliches System, um vulnerable Asylsuchende (Folteropfer, Traumatisierte, LGBTI* etc.) und deren Bedürfnisse im Verfahren und bei der Unterbringung systematisch, proaktiv und frühzeitig zu identifizieren. Der direkte Zugang zu fachärztlicher Versorgung ist für die Asylsuchenden erschwert, und der Zutritt zivilgesellschaftlicher Akteure in die Bundeszentren ist stark eingeschränkt. Zudem unterliegen die Bundesasylzentren einem strikten Regime, das stark auf Kontrolle und Sicherheit ausgerichtet ist und den Asylsuchenden nur wenig Spielraum lässt, ihren Alltag autonom zu gestalten. Die Eingriffe in die Privatsphäre im Namen der Sicherheit sind erheblich (Durchsuchungen der Schlafräume, teilweise auch nachts und ohne vorheriges Klopfen, Leibesvisitationen bei jedem Eintritt ins BAZ, regelmässig auch im Falle von Kindern und Babys).
Obwohl die Asylgesuchzahlen weiter rückläufig sind und mit 14’269 Asylgesuchen für das Jahr 2019 die tiefsten Werte seit 2007 erreicht haben, setzen die Schweizer Asylbehörden weiterhin auf eine rigide Anwendung des Dubliner Erstasylabkommens und machen nur zurückhaltend von der Möglichkeit eines Selbsteintritts Gebrauch, dies regelmässig auch im Falle besonders verletzlicher Asylsuchender und von Personen, die in der Schweiz Verwandte haben.
Nachdem das Bundesverwaltungsgericht 2017 in zwei problematischen Grundsatzurteilen eine Rückkehr nach Eritrea – selbst bei drohender Einberufung in den Nationaldienst – als zulässig und zumutbar erachtet hatte, verfügten die Asylbehörden zunehmend den Wegweisungsvollzug eritreischer Asylsuchender und leiteten auch die Überprüfung bestehender vorläufiger Aufnahmen ein. Sie wurden dabei in einem konkreten Fall durch den Uno-Ausschuss gegen Folter (CAT) gerügt, weil sie das Risiko von Folter und/oder unmenschlicher Behandlung nur ungenügend abgeklärt hatten.
Neue Restriktionen für Auslandreisen wurden für anerkannte Flüchtlinge verabschiedet und für vorläufig Aufgenommene in die Wege geleitet: Seit 1. Januar 2020 hat das Staatssekretariat für Migration die Möglichkeit, Reisen anerkannter Flüchtlinge in bestimmte Länder zu verbieten, dies mit dem Ziel, unerkannte Verwandtschaftsbesuche in den Herkunftsländern zu unterbinden. Amnesty International beurteilt diese Restriktionen als völkerrechtswidrig und unverhältnismässig.
Neu sollen nach dem Willen des Bundesrats vorläufig Aufgenommenen nicht nur Heimatreisen, sondern (mit wenigen Ausnahmen) sämtliche Auslandreisen untersagt werden. Auch dieses Vorhaben – das im Parlament noch debattiert werden muss - erachtet Amnesty als unzulässigen Eingriff in die Freiheitsrechte und in das Recht auf Pflege des Familien- und Privatlebens. Dabei ist zu beachten, dass der Status der vorläufig Aufgenommenen in der Schweiz im Vergleich zum «komplementären Schutz» in anderen europäischen Ländern generell mit vielen Restriktionen verbunden ist; insbesondere ist eine Familienvereinigung infolge strenger Anforderungen an die wirtschaftliche Selbständigkeit für viele vorläufig Aufgenommene über viele Jahre faktisch unmöglich.
Weiterhin stellt die zum Teil unmenschliche Unterbringung abgewiesener Asylsuchender, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können, ein Problem dar: Unter dem Regime der so genannten «Nothilfe» werden diese Personen in einigen Kantonen in unterirdischen Zivilschutzanlagen untergebracht, obschon die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) dies höchstens für eine Dauer von drei Monaten als zulässig erachtet hatte. Durch einen Hungerstreik der Betroffenen Ende Juni 2019 fand namentlich die Situation in der Zivilschutzanlage von Camorino (Kanton Tessin) mediale Beachtung; die kantonalen Behörden hatten dort zeitweise auch Menschen im hängigen Asylverfahren untergebracht.
Bei der Administrativhaft zur Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs verstösst die Schweiz nach Ansicht von Amnesty International weiterhin gegen die UN-Kinderrechtskonvention, indem das Schweizer Recht es weiterhin erlaub, auch Minderjährige im Alter von 15 bis 18 Jahren für maximal ein Jahr zu inhaftieren.
Kriminalisierung der Solidarität
In diversen Kantonen kam es auch 2019 zu Prozessen gegen Personen, die aus Mitgefühl und Solidarität Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere Hilfe geleistet haben. Beispiele dafür sind der Fall der Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz, des Pfarrers Norbert Valley oder der Flüchtlingshelferin Lisa Bosia.
Anni Lanz wurde vom Kantonsgericht Wallis wegen Beihilfe zu illegaler Einreise zu einer Busse von CHF 800.- verurteilt. Sie kam in Domodossola einem schwer traumatisierten afghanischen Asylsuchenden zu Hilfe, der sich in einer Notlage befand und bei Minustemperaturen im Freien schlafen musste, und brachte ihn in die Schweiz zurück. Er war zuvor aufgrund des Dublin-Abkommens nach Italien ausgeschafft worden.
Lisa Bosia wurde vom Appellationsgericht des Kantons Tessin zu einer Geldstrafe und einer Busse verurteilt, weil sie im Sommer 2016 24 zum Teil minderjährigen, eritreiischen und syrischen Asylsuchenden geholfen hatte, in die Schweiz einzureisen oder via die Schweiz zu ihren Verwandten in Deutschland zu gelangen. Im Sommer 2016 herrschten an der Grenze prekäre Umstände, und sowohl die Schweiz als auch Italien verletzten damals die in der einschlägigen Uno-Konvention festgelegten Kindsrechte. Beide Fälle werden noch das Schweizerische Bundesgericht beschäftigen.
Auch der Pfarrer Norbert Valley sieht sich einem Strafverfahren ausgesetzt; er hatte einem Flüchtling, dessen Asylantrag abgelehnt worden war, finanzielle Unterstützung und Unterkunft in der Kirche gewährt.
Amnesty unterstützte eine parlamentarische Initiative von Nationalrätin Lisa Mazzone, in Zukunft Hilfeleistungen aus achtenswerten Beweggründen ausdrücklich von einer Bestrafung auszunehmen, mit einer Kampagne.
Frauenrechte
Mit dem Frauenstreik 2019 erlebte die Schweiz eine der grössten Mobilisierungen ihrer Geschichte: 28 Jahre nach dem ersten Frauenstreik 1991 gingen am 14. Juni 2019 gemäss Schätzungen eine halbe Million Menschen gegen die anhaltende Diskriminierung von Frauen auf die Strassen.
Amnesty International warb auch anlässlich des Frauenstreiks für ihre landesweite Kampagne gegen sexuelle Gewalt an Frauen. Die Menschenrechtsorganisation hatte zuvor ein Forschungsinstitut damit beauftragt, zum ersten Mal detaillierte Zahlen zur Verbreitung sexueller Belästigung und sexueller Gewalt in der Schweiz zu erheben. Demnach erlebten 22 Prozent der Frauen in ihrem Leben ab dem Alter von 16 Jahren bereits ungewollte sexuelle Handlungen. Mit der Kampagne fordert Amnesty namentlich eine Reform des Sexualstrafrechts, so dass künftig alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung adäquat bestraft werden können und die Schweizer Gesetzgebung internationalen Menschenrechtsnormen wie der Istanbul-Konvention gerecht wird. Der Rechtsbegriff der Vergewaltigung basiert in der Schweiz weiterhin auf Gewalt, Gewaltandrohung oder anderen Nötigungsmitteln.
Menschenrechte & Sicherheit
Nachdem bereits in den Vorjahren neue Gesetze und Massnahmen zur Terrorbekämpfung eingeführt worden sind, darunter eine massive Ausweitung der Überwachungskompetenzen für den Nachrichtendienst des Bundes, begannen im Herbst 2019 im Parlament die Beratungen über zwei neue Antiterror-Gesetze, die voraussichtlich 2020 verabschiedet werden. Amnesty International und die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz forderten den Gesetzgeber auf, beide Gesetze so anzupassen, dass die Grund- rechte gewahrt bleiben.
Erstens geht es um die Vorlage «Terrorismus und organisierte Kriminalität» (eine Umsetzung des Europarat-Übereinkommens zur Verhütung des Terrorismus), die das Strafrecht und zehn weitere Gesetze betrifft. Mit der Revision wird die Definition einer «terroristischen Organisation» ins Strafrecht aufgenommen und die Beteiligung daran sowie deren Unterstützung unter Strafe gestellt. Zudem wird mit dem Ziel der präventiven Gefahrenabwehr eine Reihe neuer Delikte eingeführt, beispielsweise die «Organisation einer Reise im Hinblick auf eine terroristische Straftat». Die vage Definition von Terrorismus sowie zu wenig präzis verfasste Delikte können massive Eingriffe in die Grundrechte zur Folge haben, wie Amnesty bereits in der Vernehmlassung festgestellt hatte.
Zweitens geht es um das Bundesgesetz «Polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus» (PMT), das von Amnesty in der Vernehmlassung als zu weitgehend kritisiert wurde. Die vom Bundesrat im Mai 2019 präsentierte Vorlage sieht eine Reihe von präventiven Zwangsmassnahmen gegen sogenannte «terroristische Gefährder» vor, darunter eine Meldepflicht, elektronische Überwachung, Kontakt- und Ausreiseverbote. Die präventiven Zwangsmassnahmen können von der Bundespolizei Fedpol eigenmächtig verfügt werden – und zwar selbst gegen 12jährige Kinder. Nur für die Anordnung von Hausarrest, eine Form des präventiven Freiheitsentzugs, braucht die Bundespolizei eine richterliche Überprüfung.
Im Ständerat wurde im März 2019 ein Vorstoss gutgeheissen, der die Rückführung von «Dschihadisten» in ihr Herkunftsland vorsieht – selbst dann «wenn dieses als unsicher gilt». Damit würde die Schweiz mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung zwingendes Völkerrecht verletzen, wie Amnesty festhielt. Ob der Vorstoss im Nationalrat ebenfalls Unterstützung findet und dann von der Regierung konkretisiert werden müsste, ist zurzeit noch offen.
Gefangenenrechte
Auch 2019 hat sich nichts am harten Regime in Untersuchungshaft geändert: So sind Untersuchungshäftlinge in verschiedenen Kantonen bis zu 23 Stunden am Tag allein in ihrer Zelle eingeschlossen. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisierte derartige Haftbedingungen in Zusammenhang mit der Prüfung der Grundrechtskonformität bereits vor Jahren als übermässig restriktiv; sie könnten nach Ansicht von Amnesty auch eine Verletzung des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und der einschlägigen UNO-Standards darstellen.
Waffenkontrolle
Die Schweiz erlaubt weiterhin keine Exporte von Waffen, die direkt im Jemen-Konflikt eingesetzt werden könnten. Dass dennoch immer wieder Schweizer Waffen in Kriegsgebieten auftauchen, zeigten neue Berichte über im Jemen aufgetauchte Handgranaten der Firma RUAG.
Im Juni 2019 verbot das Aussenministerium die Tätigkeiten der Pilatus Flugzeugwerke in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, weil diese einer Unterstützung für die Streitkräfte der beiden, im Jemen-Konflikt involvierten Mächte gleichkomme. Pilatus verstosse mit seinem Engagement gegen das Bundesgesetz über die im Ausland erbrachten privaten Sicherheitsdienstleistungen. Der Flugzeughersteller ging gegen das Verbot vor Gericht; das Verfahren ist hängig, aber Pilatus darf bis zum Abschluss des Verfahrens seine Dienste in den betreffenden Ländern weiterführen. Flugzeuge von Pilatus sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in Konflikten als Kampfflugzeuge eingesetzt worden; heute dienen sie als Trainingsmaschinen für Militärpiloten.
Im Juni 2019 hat die «Allianz gegen Waffenexporte in Bürgerkriegsländer», in der Amnesty beteiligt ist, die so genannte Korrektur-Initiative eingereicht. Diese will Waffenexporte in Bürgerkriegsländer sowie in Staaten, die systematisch und schwerwiegend Menschenrechte verletzten, ein für alle Mal verhindern. Die Volksinitiative ist in kürzester Zeit und mit über 126'000 gültigen Unterschriften zustande gekommen.
Im Mai 2019 haben die Schweizer Stimmberechtigten einer Revision des Waffenrechtes zugestimmt, die nach einer Weiterentwicklung der sogenannten EU-Waffenrichtlinie nötig geworden war. Die Anpassung des Schweizer Rechts an die revidierte EU-Waffenrichtlinie trägt zu einem höheren Standard für die Kontrolle von Kleinwaffen im Besitz von Privatpersonen bei, die zur Bekämpfung von Waffengewalt und Kriminalität in ganz Europa notwendig ist.
LGBTI*-Rechte
Auch in der Schweiz sind Aufrufe zu Hass und Diskriminierung gegen Lesben, Schwule und Bisexuelle nun endlich strafbar: Mit einer Mehrheit von 63,1% hat die Schweizer Stimmbevölkerung am 9. Februar 2020 einer entsprechenden Ausweitung der Anti-Rassismus-Strafnorm auf die sexuelle Orientierung zugestimmt. Weiterhin nicht erfasst werden Diskriminierungen aufgrund der Geschlechtsidentität.
Ungelöst ist weiterhin das Problem der fehlenden Erfassung von Hate crimes gegen LGBTI: Nach wie vor führt kein Kanton eine entsprechende Statistik, was den Kampf gegen Hassverbrechen massgeblich erschwert. In zahlreichen Kantonen sind jedoch entsprechende Vorstösse eingereicht worden, und der Nationalrat hat im September 2019 einen Vorstoss gutgeheissen, der die statistische Erfassung von homo-, trans- und interfeindlichen Hassdelikten fordert. Der Vorstoss muss noch vom Ständerat behandelt werden.
Zwar ist seit 2018 die Stiefkindadoption für Paare in einer eingetragenen Partnerschaft und im Konkubinat möglich. Die «Ehe für alle» sowie gleiche Rechte für Regenbogenfamilien und im Adoptionsrecht sind dagegen immer noch nicht verwirklicht, werden jedoch demnächst im Parlament debattiert.
Wirtschaft und Menschenrechte
Nach wie vor ist nicht abschliessend klar, ob und wann die von einer breiten NGO-Koalition unter Einschluss von Amnesty getragene Konzernverantwortungsinitiative dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden wird. Die Initiative will in der Schweizer Verfassung eine Sorgfaltspflicht verankern, damit Schweizer Konzerne gesetzlich verpflichtet sind, Menschenrechte und Umwelt überall auf der Welt zu respektieren. Zudem sollen sie für Verletzungen die Haftung übernehmen und zivilrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Im Parlament laufen – unter grossem Druck der Wirtschaftsverbände – nach wie vor Beratungen zur Frage, ob es einen indirekten Gegenvorschlag geben soll, der gegebenenfalls zum Rückzug der Initiative führen wird.
Nationale Menschenrechtsinstitution
Im Dezember 2019 hat der Bundesrat eine Gesetzesvorlage für die Bildung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI) vorgelegt. Der Entwurf scheint den Pariser Prinzipien für Nationale Institutionen zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte zu entsprechen, und die Schweiz würde damit auch den Empfehlungen des Uno-Menschenrechtsrats und diverser anderer Menschenrechtsorgane der Uno folgen. Mit einem Budget von lediglich einer Million Schweizer Franken wäre die zukünftige neue Schweizer NMRI finanziell sehr knapp ausgestattet. Das Parlament wird bis Ende 2020 ein definitives Gesetz ausarbeiten; Ende 2020 läuft das provisorische Mandat eines universitären «Nationalen Kompetenzzentrums für Menschenrechte» aus.
Der Bericht berücksichtigt Entwicklungen bis Ende Februar 2020.