Kundgebung vom Schweizer Berufsverband für Pflegefachpersonal am 21. Oktober in Bern. © Daniela Enzler
Kundgebung vom Schweizer Berufsverband für Pflegefachpersonal am 21. Oktober in Bern. © Daniela Enzler

Schweiz Die Pflegeinitiative und unser Recht auf Gesundheit

9. November 2021
Das Schweizer Gesundheitswesen steuert auf einen Pflegenotstand zu, der uns alle betrifft. Tangiert sind sowohl die Arbeitsrechte des Pflegepersonals als auch das Recht auf Gesundheit aller Personen, die akut oder längerfristig auf Pflege angewiesen sind. Amnesty International unterstützt deshalb die Forderungen des Berufsverbandes, mehr Pflegefachkräfte auszubilden und den Beruf durch verbesserte Arbeitsbedingungen aufzuwerten.

Am 28. November stimmen wir über die Pflegeinitiative ab. Um die Pflegequalität in der Schweiz zu sichern, fordert der Berufsverband eine Ausbildungsoffensive sowie verbesserte Arbeitsbedingungen und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für Pflegefachpersonen (Initiativtext; Mehr Infos). Im indirekten Gegenvorschlag bietet der Bundesrat zwar eine Ausbildungsoffensive an, geht aber nicht auf die Arbeitsbedingungen und die Entwicklungsmöglichkeiten ein (Mehr Infos).

Der akute Fachkräftemangel in der Pflege spitzt sich durch den steigenden Pflegebedarf in der Schweiz laufend zu. Zudem verlassen immer mehr Angestellte im Pflegebereich den Beruf. Die andauernde Überlastung des Pflegepersonals führt zu Frustration und vermeidbaren Fehlern. Durch die Corona-Pandemie sind ihre Arbeitsbedingungen ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Wir haben geklatscht und unsere Solidarität bekundet. Nun ist es an der Zeit, die Situation zu verbessern:

Die aktuelle Situation im Pflegebereich (Quelle: Pflegeverband):
  • Steigender Fachkräftemangel und steigender Bedarf: Aktuell fehlen der Schweiz rund 11'700 Pflegende, davon 6200 Pflegefachpersonen. Gleichzeitig steigt der Pflegebedarf stark an, da die Menschen immer älter werden und chronische Erkrankungen zunehmen.
  • Zu wenig Berufseinsteiger*innen: Um den Pflegebedarf zu decken, müssten in den kommenden 10 Jahren rund 70‘500 Pflegende (davon 43‘200 Pflegefachpersonen) ausgebildet werden. Aktuell werden jedoch nur etwa zweidrittel der benötigten Personen ausgebildet.
  • Fachpersonen verlassen den Beruf: 46 Prozent der Pflegefachpersonen steigen aus dem Pflegeberuf aus; ein Drittel vor dem 35. Lebensjahr. Der Berufsverband nennt dafür folgende Gründe: Starke Überlastung durch den Personalmangel; fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie; fehlende Entwicklungsmöglichkeiten.
  • Abhängigkeit vom Ausland: Nur 56 Prozent des Personalbedarfs wird in der Schweiz ausgebildet. Das restliche Personal entzieht die Schweiz anderen Ländern, deren Gesundheitssysteme auf die Fachkräfte angewiesen wären.
Unsere Rechte sind betroffen

Amnesty International hat sich – gemeinsam mit Partner*innen aus dem Gesundheitsbereich – in Zusammenhang mit der Covid-Pandemie für die Rechte des Pflegepersonals eingesetzt («Manifest für das Gesundheitspersonal» und «Die Rechte des Gesundheitspersonals müssen geschützt werden»). Die Pflegeinitiative unterstützen wir nicht nur aus Solidarität, sondern aus menschenrechtlicher Überzeugung:

  • Recht auf faire Arbeitsbedingungen: Die aktuellen Bedingungen führen strukturell zu chronischer Überlastung und Frustration.
  • Recht auf Gesundheit: Es ist Aufgabe des Staates, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen und für ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität zu sorgen. Die Überlastung des Pflegepersonals führt zu vermeidbaren Fehlern, die uns alle teuer zu stehen kommen (verzögerte Genesung, mehr Rückfälle, höhere Gesundheitskosten, häufigere Anwendung von freiheitsbegrenzenden Massnahmen bei «schwierigen» Patient*innen etc.)
  • Recht auf Gleichstellung: In Pflegeberufen arbeiten vor allem Frauen. Die fehlende Anerkennung des Berufsfeldes, tiefe Löhne, die fehlende Autonomie und mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten zementieren eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts.

Eine Ausbildungsoffensive ist zweifellos Teil der Lösung. Die Massnahme reicht jedoch nicht aus, um Fachpersonen zu gewinnen, sie mit Motivation in ihrem Beruf zu behalten und eine Pflegequalität sicherzustellen, die den Anforderungen an unser Gesundheitswesen entspricht. Wir fordern faire Arbeitsbedingungen zur Sicherung der Gesundheit am Arbeitsplatz und der Pflegequalität. Alle Menschen haben das Recht, das für sie höchste mögliche Mass an Gesundheit zu erreichen.