«Wer einen Schockzustand des Opfers für Geschlechtsverkehr ausnützt, soll künftig wegen Vergewaltigung bestraft werden können. Mit dem heutigen Entscheid anerkennt der Ständerat, dass fehlende Ablehnung nicht grundsätzlich als Zustimmung zum Sex zu interpretieren ist. Die vorliegende Lösung verbessert den Zugang von Betroffenen zur Justiz und erleichtert die Bekämpfung der verbreiteten Straflosigkeit bei Vergewaltigungen», sagte Cyrielle Huguenot, Frauenrechtsverantwortliche bei Amnesty Schweiz.
«Zentral ist, dass die Vorlage so umgesetzt wird, dass alle Fälle erfasst werden, in denen das Opfer seine Ablehnung nicht deutlich machen kann – sei es aus Angst, Überraschung oder Überforderung» Cyrielle Huguenot, Frauenrechtsverantwortliche bei Amnesty Schweiz
«Amnesty International begrüsst den Vorschlag des Ständerats. Das Parlament sollte keine weitere Zeit verlieren und das Gesetz in der nächsten Session verabschieden. Viel zu lange schon warten Betroffene sexualisierter Gewalt in der Schweiz auf Gerechtigkeit», sagte Cyrielle Huguenot.
«Zentral ist, dass die Vorlage so umgesetzt wird, dass alle Fälle erfasst werden, in denen das Opfer seine Ablehnung nicht deutlich machen kann – sei es aus Angst, Überraschung oder Überforderung», sagte Cyrielle Huguenot: «Wir haben von Beginn weg gefordert, dass von Opfern keine aktive Ablehnung verlangt wird. Betroffenen darf keine implizite Mitverantwortung bei einem Übergriff zugewiesen werden.»
«Ein neues Gesetz allein reicht nicht. Neben der raschen Umsetzung des neuen Sexualstrafrechts braucht es weitere Massnahmen. Das Parlament muss dafür sorgen, dass die Ausbildung und Sensibilisierung von Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Justiz verbessert und die Opferhilfe verstärkt werden. Bei der Sexualerziehung muss die Zustimmung im Zentrum stehen. Zudem braucht es endlich verlässliche, öffentliche Statistiken zu sexualisierter Gewalt sowie wirksame Informations- und Präventionskampagnen», forderte Cyrielle Huguenot.
Erwartungen von Frauen und jüngeren Generationen
Der Ständerat hat die an sich mangelhafte «Nein heisst Nein»-Lösung um den Aspekt des Schockzustands erweitert. Strafbar macht sich demnach nicht nur, «wer gegen den Willen einer Person eine sexuelle Handlung an dieser vornimmt oder von dieser vornehmen lässt», sondern auch «wer zu diesem Zweck einen Schockzustand einer Person ausnützt». Er hat damit ein zentrales Anliegen von Betroffenen und diversen Fachorganisationen in den Grundtatbestand von Art. 190 StGB (Vergewaltigung) und Art. 189 (neu: sexueller Übergriff) aufgenommen. Auf das bisher geltende Tatbestandselement der Nötigung wurde bereits in erster Lesung verzichtet.
Die Gesetzesvorlage bringt erhebliche Verbesserungen im Vergleich zum aktuellen Recht. Trotzdem hält Amnesty International «Nur Ja heisst Ja» weiterhin für die beste Lösung zum Schutz vor sexualisierter Gewalt. Die Zustimmungslösung stellt unmissverständlich klar, dass Sex nur dann einvernehmlich ist, wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind. Hinter der Ablehnungslösung (‘Nein heisst Nein’) steht immer noch die veraltete Haltung: Sex ist ein Gut, auf das man ein Recht hat, solange niemand widerspricht.
Dieser Ansicht sind auch Betroffene:
«Wir sind enttäuscht und sehen es als verpasste Chance, dass die Selbstverständlichkeit von Konsens bei Sex nicht mit ‘Nur Ja heisst Ja’ im Gesetz verankert wird. Trotz allem sehen wir den historischen Schritt und begrüssen, dass das Freezing anerkannt wird.»
Cindy Kronenberg und Morena Diaz, Mitglieder von Vergewaltigt.ch und der Betroffenengruppe von Amnesty Schweiz
Amnesty International hatte 2019 die Kampagne «Gerechtigkeit für Opfer sexualisierter Gewalt» in der Schweiz lanciert. Zehntausende Menschen und zahlreiche Organisationen, Fachpersonen aus Wissenschaft, Justiz und Opferberatung sowie Politiker*innen diverser Parteien haben sich über die Jahre der Forderung nach einem Konsens-basierten Sexualstrafrecht angeschlossen und eine breite gesellschaftliche Bewegung gebildet.