Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich: Kein Ort der freien Meinungsäusserung? © flominator / wikicommons
Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich: Kein Ort der freien Meinungsäusserung? © flominator / wikicommons

Schweiz Neue Einschränkungen der Meinungsfreiheit an Universitäten

Medienmitteilung 1. Oktber 2024, Bern – Medienkontakt
Die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) in Zürich und die Universität Genf haben kürzlich zwei Veranstaltungen verboten mit der Begründung, dass sie mit dem aktuellen Konflikt in Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet in Verbindung stehen. Amnesty International hinterfragt diese Verbote, die durch die jüngsten Stellungnahmen des Bundesrates zu studentischen Demonstrationen begünstigt wurden. Amnesty International fordert die Behörden und Rektorate auf, das Recht auf Meinungsfreiheit an Universitäten und Hochschulen zu garantieren.

Der Beginn des akademischen Jahres wurde durch die Verbote zweier Veranstaltungen überschattet. An der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich wurde eine von Tech Ethics organisierte Debatte über «Künstliche Intelligenz und autonome Waffensysteme» mit namhaften Redner*innen, darunter eine Expertin von Amnesty International und ein Absolvent der Harvard University, von der ETH-Leitung mit der Begründung verboten, dass die Organisator*innen «tendenziell politisch voreingenommen» seien und es sich bei ihnen um «eine antiisraelische Gruppe» handle. In Genf verbot die Universität die Verteilung einer Zeitschrift und mahnte die Urheberin, die Conférence Universitaire des Associations d'Etudiantes (CUAE) ab. Sie drohte der Organisation damit, ihren Vereinsstatus wegen zweier Erwähnungen im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Kontext in der Agenda zu suspendieren oder sogar zu entziehen. 

«Das Völkerrecht hält fest, dass Universitäten eine wesentliche Rolle beim Schutz und der Förderung der Menschenrechte spielen, insbesondere wenn es sich um öffentliche Einrichtungen wie die Universität Genf und die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich handelt», sagt Anita Goh, Juristin bei Amnesty International Schweiz.  «Wie das Bundesgericht mehrfach betont hat, ist es in einer Demokratie unerlässlich, dass auch Meinungen geäussert werden können, die der Mehrheit nicht gefallen oder die für viele Menschen anstössig sind.

Im Juni dieses Jahres wurde der Bundesrat vom Parlament dreimal zu Protesten an Schweizer Universitäten und Hochschulen befragt. Dreimal verpasste der Bundesrat die Gelegenheit, seine Rolle als Garant der Menschenrechte in der Schweiz wahrzunehmen und an die in der Bundesverfassung verankerten Grundprinzipien in diesem Bereich zu erinnern.  

Mögliche Hierarchisierung der Menschenrechte 

Amnesty International ist besonders besorgt über die Stellungnahme des Bundesrates vom 28. August, die eine Hierarchisierung der Menschenrechte andeuten könnte, was gegen das Völkerrecht verstossen würde. Die Stellungnahme erwähnt zudem die Möglichkeit, allgemeine Einschränkungen einzelner Menschenrechte, insbesondere der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit, zuzulassen. Dies wäre ein klarer Verstoss gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der nur Einschränkungen von Fall zu Fall zulässt und nur dann, wenn sie dem dreifachen Test (Rechtmässigkeit, Notwendigkeit, Verhältnismässigkeit) entsprechen, der in Art. 36 der Bundesverfassung vorgesehen ist.    

«Der Bundesrat hat es in seinen lückenhaften Antworten versäumt, die Debatte aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu beleuchten. Dies ebnet den Weg für Verbote und Einschränkungen ohne erkennbare Verhältnismässigkeit, wie sie in Genf und Zürich ausgesprochen wurden», sagt Anita Goh. 

Der Bundesrat muss jedoch eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, die Menschenrechte in der Schweiz zu respektieren und zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere, wenn die Eidgenössischen Technischen Hochschulen betroffen sind, da diese dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) angegliedert sind.  

«In einer Zeit, in der die Polarisierung der Debatten über den Nahost-Konflikt immer weiter zunimmt, ist es umso wichtiger, einander mit Respekt zu begegnen, Verständnis zu zeigen und den Dialog zu ermöglichen.» Anita Goh, Juristin bei Amnesty International Schweiz

Universitäten und Hochschulen sind ihrerseits dazu aufgerufen, die akademische Freiheit und die Rechte der Mitglieder der akademischen Gemeinschaft, einschliesslich der Vereinigungen von Student*innen, zu verteidigen. Sie müssen sich an das Völkerrecht halten, das die freie Meinungsäusserung und friedlichen Protest garantiert, mit Ausnahme von Aufrufen zu Hass, Gewalt und Diskriminierung. Für jede Einschränkung dieser Freiheiten müssen sie das Prinzip der Verhältnismässigkeit respektieren.   

«Die aktuelle Lage in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten kann nicht als Rechtfertigung für Einschränkungen der Menschenrechte dienen. Im Gegenteil: Gerade in Krisenzeiten ist es für alle Menschen von entscheidender Bedeutung, die Möglichkeit zu haben, sich zu informieren, eine Meinung zu bilden und diese auch gemeinsam zu verbreiten. In einer Zeit, in der die Polarisierung der Debatten über den Nahost-Konflikt immer weiter zunimmt, ist es umso wichtiger, einander mit Respekt zu begegnen, Verständnis zu zeigen und den Dialog zu ermöglichen», sagt Anita Goh. 

Zu den Hintergründen  

Seit den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober und der militärischen Reaktion Israels hat Amnesty International in der Schweiz zahlreiche Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit und des Rechts auf freie Meinungsäusserung beobachtet. Nach allgemeinen Demonstrationsverboten in verschiedenen Städten hatte Amnesty im Dezember 2023 den Aufruf für die Demonstrationsfreiheit unterstützt, mit dem rund 30 Persönlichkeiten vor dieser Problematik warnten.

Während den Protesten an Hochschulen im Mai und Juni dieses Jahres erinnerte Amnesty International an die Verpflichtungen der Universitäten und Hochschulen in Bezug auf das Recht der Studierenden auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung. Amnesty International fordert von der ETH-Leitung, dass diese ihren Entscheid revidiert und die von Tech Ethics geplante Veranstaltung zu künstlicher Intelligenz und autonomen Waffen zulässt.

Amnesty International veröffentlicht diese Medienmitteilung zu einem Zeitpunkt, an dem die Swiss Action for Human Rights ihre Petition für die freie Meinungsäusserung von Studierenden in der Schweiz dem Bundesrat übergibt.