Die Angeklagte war bei der kleinen, friedlichen Aktion im Berner Elfenauquartier als Amnesty-Vertreterin gekennzeichnet, sie trug eine Friedensfahne bei sich und wurde von fünf Arbeitskolleg*innen begleitet. Zur Übergabe der Petition kam es jedoch nicht, da der Botschaftsschutz der Gruppe nicht erlaubte, sich dem Eingang der Botschaft zu nähern. Stattdessen wurde die Verantwortliche gebüsst, weil sie keine Bewilligung vorweisen konnte. Die Amnesty-Mitarbeiterin beruft sich auf die Meinungsäusserungsfreiheit und bestreitet, dass es sich bei der Petitionsübergabe, über die sie die Botschaft im Vorfeld schriftlich informiert hatte, um eine bewilligungspflichtige Kundgebung handelt.
Petitionsübergaben müssen in ‘Sicht und Hörweite’ erlaubt sein
Die Übergabe von Petitionen für Menschenrechtsanliegen ist ein zentrales Instrument für Amnesty International, um Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen und Forderungen an einen Staat zu tragen. Da diplomatische Vertretungen schriftliche Eingaben von Menschenrechtspetitionen oft ignorieren, ist die Übergabe einer Petition vor Ort häufig die einzige Möglichkeit, um ausländische Behörden auf ein Anliegen aufmerksam zu machen. Diese Praxis ist völkerrechtlich geschützt durch das in den OSZE-Leitlinien verankerte «Sight-and-Sound»-Prinzip, das anerkennt, dass es «oft nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten gibt, eine bestimmte Botschaft wirksam zu übermitteln» und, dass deshalb «der Umfang der Einschränkungen genau definiert werden» muss. «Wenn Beschränkungen auferlegt werden, sollten diese streng dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen und sollten immer darauf abzielen, die Versammlung in ‘Sicht- und Hörweite’ der Adressat*innen oder des Zielpublikums zu ermöglichen», heisst es in den OSZE-Leitlinien.
Völkerrechtswidrige Umsetzung der Bewilligungspflicht
Auch wenn die Übergabe einer Petition von der Stadt Bern als Kundgebung betrachtet wird, so ist Amnesty International der Ansicht, dass diese Art von Aktion nicht einer Bewilligungspflicht unterliegen darf. Die Behörden können für bestimmte Versammlungen zwar eine Meldepflicht verlangen, sie sind jedoch verpflichtet, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu garantieren. Eine gültige Rechtfertigung für eine Einschränkung dieser Grundrechte ist in vorliegendem Fall nicht ersichtlich, denn in Anbetracht der sehr geringen Anzahl Teilnehmer*innen, deren friedlichen Auftretens und der Tatsache, dass die Verantwortliche nicht öffentlich zur Teilnahme an der Petitionsübergabe aufgerufen hatte, ist nicht nachvollziehbar, welchen Unterschied das Einholen einer Bewilligung auf den reibungslosen Ablauf der Übergabe gemacht hätte.
Es ist nicht der erste Prozess wegen mutmasslicher Widerhandlung gegen das Kundgebungsreglement in der Bundesstadt. Mehrere Uno-Sondergesandte haben zur restriktiven Praxis in Bern Stellung genommen und halten unter anderem fest: «Das Versäumnis, die Behörden vorab über eine bestehende Versammlung zu informieren, macht die Teilnahme an der betreffenden Versammlung nicht rechtswidrig und darf nicht an sich als Grund für die Auflösung der Versammlung oder für die Verhängung von ungerechtfertigten Sanktionen (…) angeführt werden.»
Abschreckende Wirkung einer Busse beschränkt Recht auf Protest
Gemäss den OSZE-Leitlinien zur Versammlungsfreiheit können «unnötige oder unverhältnismässig harte Sanktionen für das Verhalten bei Versammlungen die Durchführung solcher Veranstaltungen behindern, eine abschreckende Wirkung haben und die Demonstrant*innen von der Teilnahme abhalten. Solche Sanktionen können eine indirekte Verletzung des Rechts auf friedliche Versammlung darstellen.» Amnesty International warnt davor, dass hohe Hürden und intransparente Verfahren sowie unklare Auflagen wie sie in Bern in Bezug auf Demonstrationen vor Botschaften herrschen, auf Protestierende abschreckend wirken und einen sogenannten «chilling effect» auf die Ausübung des Rechts auf Protest haben.