In letzter Zeit haben Fälle von Medienzensur immer wieder für Schlagzeilen gesorgt: in Neuchâtel wurde das Haus des Journalisten Ludovic Rocchi durchsucht, um an seine Quellen zu gelangen. Im Wallis wurde eine Fernsehreportage des Journalisten Yves Steiner nicht realisiert, weil er Informationen über einen lokalen Weinproduzenten recherchiert hatte.
Im Rahmen der 3. Journalismustagung lässt Amnesty International diese Opfer von Medienzensur zu Wort kommen. Sie werden gemeinsam mit weiteren Journalisten und Anwälten über zwei Thesen diskutieren:
1. Die Pressefreiheit in der Schweiz ist bei Weitem nicht gegeben, so der Journalist Jean-Philippe Ceppi.
2. Journalisten haben ein Instrument, um sich gegen Zensur zur Wehr zu setzen: die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).
DIE EMRK: VERBINDLICHE MENSCHENRECHTE
Was ist die EMRK? Ein internationaler Vertrag – wenig bekannt und manchmal wenig beliebt – der seit seiner Entstehung tausenden von Menschen zu ihrem Recht verholfen hat, so der Jurist Alain Bovard von Amnesty International. Nach den Schrecken des 2. Weltkrieges gründeten 1949 mehrere europäische Staaten gemeinsam ein Forum für die Menschenrechte, den Europarat[1], und schlossen einen verbindlichen Vertrag zur Sicherung der Grundrechte ab. Die EMRK schützt vor Folter, gewährleistet die Achtung des Privat- und Familienlebens und garantiert das Recht auf ein faires Verfahren. Sie ist die letzte Waffe des Individuums gegenüber der Allmacht des Staates.
In der Praxis ist die EMRK ein dynamisches Instrument: sie wird von einem Gerichtshof ausgelegt, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der damit Jurisprudenz schafft. Heute haben 800 Millionen Individuen die Möglichkeit, nach Ausschöpfung aller nationalen Rechtsmittel, den Staat aufgrund einer Verletzung der EMRK zu verklagen. Im Laufe der Zeit behandelte der Gerichtshof Fälle zu biomedizinischen Fragen, Beschwerdefristen und Gesetzeslücken – seine verbindlichen Urteile zwingen die jeweiligen Staaten dazu, ihre internen Reglemente zu verändern.
Wie steht es mit der Schweiz? Vor der Einführung des Frauenstimmrechts 1974 war die Schweiz nicht demokratisch legitimiert, um die EMRK ratifizieren zu können. Seit die Schweiz jedoch Mitglied des Europarates und somit an den Gerichtshof in Strassburg gebunden ist, hat sich die Schweizer Rechtsordnung verändert und weiterentwickelt. Das Ausmass dieser Entwicklungen bleibt der breiten Öffentlichkeit meist verborgen. So wurde beispielsweise durch den Einfluss der EMRK das Strafrecht harmonisiert, die Gleichberechtigung der Ehepartner in der Namenswahl verbessert und sogar die Verfassung wurde angepasst. 1999 wurde bei der Revision der Bundesverfassung die Anzahl der Grundrechte deutlich erhöht. Ganze Gesetzesartikel von der EMRK wurden mit der Zustimmung des Schweizer Stimmvolkes in die Bundesverfassung aufgenommen, darunter beispielsweise die Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre. Der Einfluss der EMRK beschränkt sich somit nicht nur auf die Urteile aus Strassburg, sondern beinhaltet auch eine präventive Wirkung.
DIE EMRK UND DIE INFORMATIONSFREIHEIT
Journalistinnen haben in der Vergangenheit vom doppelten Schutz durch die EMRK profitiert: Ihre Arbeit ist – auch in der Schweiz - dank Artikel 10 EMRK „Recht auf freie Meinungsäusserung“ ausdrücklich geschützt.
Ein weiteres Beispiel in der Schweiz erinnert an den jüngsten Fall von Yves Steiner: 1997 hat die Schweizer Justiz die Kassetten einer Fernsehsendung von „Temps présent“ über nachrichtenlose Vermögen von Holocaust-Opfern unter Embargo gestellt. Nach einem erfolglosen Vorstoss beim Bundesgericht hat der Produzent Daniel Monnat den EGMR in Strassburg angerufen. Dieser hat das Urteil der Schweizer Justiz widerrufen, mit der Begründung, dass der Dokumtarfilm wichtig sei für die öffentliche Debatte.
Öffentliche Debatte, Verhältnismässigkeit der richterlichen Massnahmen…der Gerichtshof in Strassburg entscheidet von Fall zu Fall neu und wägt die Interessen des Klägers und des Staates sorgfältig ab, verteidigt dabei aber immer vehement die Freiheit der Medien.
Die französische Anwältin Fabienne Aubry erzählt beispielsweise während der Podiumsdiskussion an der Journalismustagung, dass die Niederlande wegen Spionage an Journalisten verurteilt wurde.[2] In seinem Urteil unterstreicht Strassburg „die Wichtigkeit des Schutzes der journalistischen Quellen für die Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft“[3]. In Grossbritannien bekam ein Journalist von The Engineer eine Geldstrafe weil er nicht bereit war seine Quellen zu enthüllen[4] und in Frankreich kam es aufgrund eines Artikels über Doping zu einer Hausdurchsuchung eines Journalisten.[5]
EINE NORMATIVE FUNKTION
In einem Staat wie die Schweiz, in dem das monistische System gilt, d.h. dass direkt anwendbares Völkerrecht automatisch ins nationale Recht übergeht, nimmt die EMRK auch eine normative Funktion ein. Schweizer Richter können in ihren Urteilen direkten Bezug auf die EMRK nehmen. Man muss somit nicht mehr nach Strassburg gehen, um von der EMRK geschützt zu werden. Ludovic Rocchi kann dies bestätigen, da das Neuenburger Gericht die Hausdurchsuchungen, denen er ausgesetzt war, als illegal erklärte und seine Entscheidung vor allem auf die EMRK abstützte. Dies erklärt sein Anwalt Yves Burnand im Rahmen dieser Journalistinnen-Tagung. Die EMRK erweist sich wiederholt als starker Schutz für die Freiheit der JournalistInnen.
BLICK IN DIE ZUKUNFT
Zu einer Zeit, in der eine Volksinitiative Landesrecht über das Völkerrecht stellen will und die EMRK ganz klar unter Beschuss steht, sieht die Zukunft der Informationsfreiheit in der Schweiz düster aus. 40 Jahre nach der Ratifizierung der EMRK ist es heute unabdingbar, dass sich die Medienschaffenden der Bedeutung dieser Konvention und des Europäischen Gerichtshofs in Strassburg für ihre Arbeit bewusst sind.
[1] Nicht zu verwechseln mit der Europäischen Union (EU), einem politischen Projekt, das viel später ins Leben gerufen wurde und nur einen Teil der europäischen Staaten vereint. Der Europarat ist ein Forum für Menschenrechte und sozialen Fortschritt mit 47 Mitgliedstaaten.
[2] EGMR, Telegraaf Media Nederland Landelijke Media B.V. und andere v. Niederlande
[3] EGMR, Schutz der journalistischen Quellen, August 2013.
[4] EGMR, Goodwin v. Vereinigtes Königreicht
[5] EGMR, Ressiot und andere v. Frankreich