1. Was will die Initative erreichen?
2. Wer unterstützt die Initiative?
3. Welches sind die erklärten Ziele der Initiative?
4. Verfolgt die Initiative noch weitere Ziele?
5. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Initiative und den Menschenrechten?
6. Was würde passieren, wenn die Initiative angenommen werden würde?
7. Ist die Unabhängigkeit der Schweiz durch Entscheide des Gerichthofs in Strassburg gefährdet?
8. Garantiert die Initiative Rechtssicherheit, wie es die SVP sagt?
9. Wird die Demokratie wirklich verletzt und bedroht?
10. Droht die Schweiz unter das Diktat der EU zu fallen?
12. Hat das «Volk» immer Recht?
13. Kann die Schweiz auf sich alleine gestellt die Menschenrechte wirklich schützen?
14. Müsste die Schweiz bei Annahme der Initiative die EMRK kündigen und aus dem Europarat austreten?
20. Hätte ein Ja zur Initiative Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unsere Handelsbeziehungen?
1. Was will die Initative erreichen?
Die Initiative will mit der Änderung von fünf Verfassungsartikeln erreichen, dass unsere Verfassung über dem Völkerrecht steht. Gemäss den InitiantInnen «möchten Politiker, Beamte und Professoren die Volksrechte einschränken und stellen sich mehr und mehr auf den Standpunkt, dass fremdes Recht, fremde Richter und Gerichte mehr zählen als das von Volk und Ständen bestimmte Schweizer Recht».[1]
Text der Initiative:[2]
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 5 Abs. 1 und 4
1Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht. Die Bundesverfassung ist die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
4Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor, unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
Art. 56a Völkerrechtliche Verpflichtungen
1Bund und Kantone gehen keine völkerrechtlichen Verpflichtungen ein, die der Bundesverfassung widersprechen.
2Im Fall eines Widerspruchs sorgen sie für eine Anpassung der völkerrechtlichen Verpflichtungen an die Vorgaben der Bundesverfassung, nötigenfalls durch Kündigung der betreffenden völkerrechtlichen Verträge.
3Vorbehalten bleiben die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
Art. 190 Massgebendes Recht
Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.
Art.197 Ziff. 122
12. Übergangsbestimmung
Mit ihrer Annahme durch Volk und Stände werden die Artikel 5 Absätze 1 und 4, 56a und 190 auf alle bestehenden und künftigen Bestimmungen der Bundesverfassung und auf alle bestehenden und künftigen völkerrechtlichen Verpflichtungen des Bundes und der Kantone anwendbar.
2. Wer unterstützt die Initiative?
Die Initiative wurde von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) lanciert. Bis jetzt wird sie von keiner anderen wichtigen Partei auf nationaler Ebene unterstützt. Wenn man sich die jeweiligen Parteiprogramme ansieht, scheint es aber durchaus möglich, dass die Schweizer Demokraten, die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) und andere kleine rechtsextreme Parteien die Initiative unterstützen werden.
3. Welches sind die erklärten Ziele der Initiative?
Gemäss Argumentarium der SVP, das sie mit der Einreichung der Initiative vorgelegt haben, verfolgt die Initiative folgende Ziele: [3]
- Die direkte Demokratie zu schützen und zu stärken und das vom Volk und den Kantonen geschaffene Gesetz zur obersten Rechtsquelle in der Schweiz zu machen;
- zu verhindern, dass das Völkerrecht (ausgenommen zwingendes Völkerrecht[4]) über der Verfassung steht, zum Beispiel in Form von bilateralen Abkommen;
- Eine Einmischung durch fremde Richter in der Schweiz zu verhindern, ob aus Luxemburg (Gerichtshof der Europäischen Union, EUGH) oder aus Strassburg (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR);
- Den Bundesrat und das Parlament dazu verpflichten, wieder den Volkswillen zu respektieren und seine Entscheide umzusetzen, wie zum Beispiel die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative oder die Verwahrungsintiative;
- Eine «Elitokratie» verhindern (Verwaltung, Regierung, Richter, Professoren), welche dem Volk immer mehr Rechte entzieht.
4. Verfolgt die Initiative noch weitere Ziele?
Sie verfolgt zumindest ein weiteres Ziel, das schon beim Lesen des Initiativtextes deutlich wird: Der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wird in Frage gestellt. Der Kontext, in dem die Initiative entwickelt wurde, nämlich die wiederholten Spannungen zwischen Volksentscheiden und internationalen Verpflichtungen der Schweiz (die Verwahrungsinitiative, Abschiebung krimineller Ausländer, Durchsetzungsinitiative etc.) und die von den InitiantInnen vorgebrachten Argumente und Beispiele zeigen deutlich, dass sich der Text gegen die EMRK ausspricht. Zusätzlich stellt sie die bilateralen Verträge mit der EU, insbesondere die Personenfreizügigkeit in Frage.
5. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Initiative und den Menschenrechten?
Die Initiative strebt an, dass nationales Recht immer über dem Völkerrecht steht. Damit greift sie die Menschenrechte direkt an: Indem sie nationale Recht über die EMRK setzt, hebt sie auch den Schutz auf, den die EMRK allen Personen in unserem Land gewährt, deren Grundrechte verletzt werden.
Dass die Initiative die EMRK direkt angreift, verstecken die InitiantInnen nicht. Das Programm der SVP steht regelmässig im Widerspruch mit der EMRK. Die Schweiz wurde von Strassburg bisher (noch) nicht wegen einer kontroversen Initiative wie der Minarettinitiative verurteilt, aber die EMRK gilt jeweils als rote Linie, die bei der Umsetzung der Initiativen nicht überschritten werden darf.
Ohne den Schutz der EMRK könnten durch Volksinitiativen die in der Verfassung festgehaltenen Grundrechte dramatisch beschnitten werden.
Die InitiantInnen würden es also befürworten, wenn die Schweiz aus der EMRK austreten würde und sich nebenbei auch noch aus dem Europarat zurückziehen würde. Ein solcher Schritt würde bedeuten, auf den besten Schutz zu verzichten, den jeder Mensch in der Schweiz gegen eine Verletzung seiner Grundrechte hat.
Nebenbei würde sich die Schweiz auch noch weiteren unlösbaren Problemen gegenübersehen, beispielsweise im Falle einer Unvereinbarkeit von Schweizer Gesetzen mit den Uno-Verträgen zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten oder den bürgerlichen und politischen Rechten, da diese über keine Austrittsklauseln verfügen.
6. Was würde passieren, wenn die Initiative angenommen werden würde?
Die Folgen einer Annahme der Initiative sind weitreichend und schwer abzuschätzen. Kurzfristig käme es beispielsweise bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative zur Kollision mit dem Völkerrecht, insbesondere mit dem Freizügigkeitsabkommen der EU. Mit dem Vorrang des Schweizer Rechts vor Völkerrecht müssten die bilateralen Verträge zur Personenfreizügigkeit gekündigt werden.
Längerfristig würde die Annahme der Initiative zu einem Austritt aus der EMRK, dem EGMR und dem Europarat führen. Wenn Verfassungsartikel mit der EMRK kollidieren, müssten die Gerichte Schweizer Recht anwenden und die EMRK verletzen, was im Wiederholungsfall zum Ausschluss aus der EMRK führt. Auch andere internationale Menschenrechtsverträge könnten in der Schweiz wertlos werden, beispielsweise die zwei UNO-Menschenrechtspakte oder die Kinderrechtskonvention.
Konkret würde es bedeuten, dass das Bundesgericht einerseits keinen Gerichtsentscheid mehr aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem Völkerrecht kassieren könnte, andererseits würde es keine Rekursmöglichkeit mehr beim EGMR in Strassburg geben, da ein Entscheid nicht mehr berücksichtigt werden würde, wenn er mit dem Schweizer Recht unvereinbar wäre. Alle in der Schweiz lebenden Personen würden damit den Schutz verlieren, den die EMRK zurzeit gegen Verletzungen der Grundrechte bietet.
Durch den neuen Art. 190 würde die Arbeit des Bundesgerichts ausserdem extrem erschwert, da in ihm festgehalten wird, dass das Gericht sowohl nationale Gesetze, als auch internationale Übereinkommen umsetzen muss, obwohl einige dieser Texte miteinander unvereinbar sind.
7. Ist die Unabhängigkeit der Schweiz durch Entscheide des Gerichthofs in Strassburg gefährdet?
Die InitiantInnen argumentieren häufig mit der von ihnen gesehenen Bedrohung der Unabhängigkeit der Schweiz. Mit jedem Entscheid aus Strassburg nähern wir uns Brüssel an, ist die SVP überzeugt. Dass dies nicht stimmt, zeigen die folgenden Punkte:
- Die AnhängerInnen der Initiative vermischen häufig den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Europäische Union, obwohl die beiden nichts miteinander zu tun haben. Der EGMR ging aus dem Europarat hervor, der sich aus 47 Ländern aus Europa und Zentralasien zusammensetzt. Die Europäische Union, die bis jetzt noch kein Mitglied im Europarat ist, hat keinerlei Einfluss auf den EGMR.
- Die Gesetze der EU, die die Schweiz übernimmt, werden vom Parlament systematisch bestätigt. Es steht dem Parlament frei, diese Gesetze nicht zu bestätigen, wenn es glaubt, dass die Unabhängigkeit der Schweiz dadurch bedroht ist.
- Die Rechtsnormen anzunehmen, die auch in unseren Nachbarstaaten gelten, bedeutet nur, die Regeln der guten Nachbarschaft anzuerkennen. Diese Normen können sich aber auch für die Schweiz lohnen, z.B. wenn sich die europäischen Unternehmen an die gleichen Gesetze halten müssen wie die Schweizer Unternehmen, was den fairen Wettbewerb fördert.
- Die Schweiz behält weiterhin einen grossen Handlungsspielraum, wenn sie sich an den gesetzlichen Rahmen hält, der von der EU oder vom Europarat vorgegeben wird. Es ist ein bisschen so, wie wenn wir uns an die Hausordnung unseres Wohnhauses halten, aber unsere eigene Wohnung trotzdem nach unseren eigenen Wünschen einrichten können.
8. Garantiert die Initiative Rechtssicherheit, wie es die SVP sagt?
Die SVP betont, dass ihre Initiative die Beziehungen zwischen Völkerrecht und Schweizer Recht festlegt und damit Gesetzeskonflikte löst, was grössere Rechtssicherheit schaffe.
In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Auf der einen Seite sieht die Initiative in der Schweizer Verfassung «die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft»[5], und stellt sie damit «über das Völkerrecht»[6], und verlangt nötigenfalls eine Kündigung «der betreffenden völkerrechtlichen Verträge»[7]. Auf der anderen Seite verankert der Text den Vorrang völkerrechtlicher Verträge, welche durch ein Referendum genehmigt wurden[8] und behält generell das Prinzip bei, dass die Eidgenossenschaft und die Kantone das «Völkerrecht beachten»[9]. Die Initiative steckt also voller Widersprüche und führt zu mehr Rechtsunsicherheit, statt Probleme zu lösen.
9. Wird die Demokratie wirklich verletzt und bedroht?
Eines der häufig von der SVP vorgebrachten Argumente für die Initiative besagt, dass sich das Parlament oder die Richter durch die nicht wortgetreue Umsetzung des bei Abstimmungen geäusserten Volkswillen zur höchsten Instanz unserer Demokratie machen und sie dadurch kurzschliessen. Sie würden so die Prinzipien unseres Rechtsstaates verletzen.
Die UnterstützerInnen der Initiative sind der Meinung, dass sich nicht nur «der Bundesrat, die Mehrheit des Parlaments und das Bundesgericht», sondern auch «die Professoren des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts auf das Völkerrecht stützen, um sich gegen die Umsetzung des Volkswillen auszusprechen.»[10]
Die Demokratie würde von der Annahme der Initiative nicht gestärkt, im Gegenteil: Im Falle eines unlösbaren Widerspruchs zwischen der eidgenössischen Verfassung und dem Völkerrecht müsste der Bundesrat, der gemäss Art. 184 BV dazu befugt ist, den entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag kündigen. In anderen Worten, der Bundesrat könnte ohne weitere Konsultationen Verträge kündigen, welche die Stimmberechtigten zu einem früheren Zeitpunkt angenommen haben.
Die Auswirkungen bei der Annahme dieser Initiative würden ähnlich wie bei der Masseneinwanderungsinitiative zu einem Souveränitätsverlust der Stimmbevölkerung führen und so die direkte Demokratie gefährden.
Der Bundesrat wäre etwa gezwungen, den Vertrag zur Personenfreizügigkeit zu kündigen (bilaterale Verträge I und II), falls die Verhandlungen zur Initiative mit der EU scheitern. Er müsste die Stimmberechtigten nicht dazu befragen, auch wenn diese im Mai 2000 die bilateralen Verträge I und II mit grosser Mehrheit angenommen haben, 2004 für das Dublin/Schengen- Abkommen gestimmt haben und kein Referendum gegen neue Verträge innerhalb der Bilateralen II ergriffen haben. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Stimmberechtigten dadurch an Einfluss verlieren würden.
10. Droht die Schweiz unter das Diktat der EU zu fallen?
Die SVP greift nicht nur die EMRK an, sondern auch bereits beschlossene (und zukünftige) Abkommen mit der EU. Der Text der Initiative und das dazu gelieferte Argumentarium machen deutlich, dass die SVP die automatische Übernahme von Völkerrecht, insbesondere von der EU, verhindern will, denn sie sieht darin eine Diktatur Brüssels über die Schweiz.
Man darf nicht vergessen, dass es bei vielen Gesetzen, die jedes Jahr von der Schweiz beschlossen werden, nicht mehr nur um nationales Recht geht, sondern um internationales Vertragsrecht. Die Texte des innerstaatlichen Rechts, die sich auf Völkerrecht stützen, werden auch immer zahlreicher. Es gibt keine klare Abgrenzung mehr zwischen der nationalen und der internationalen Politik. Die BürgerInnen können durch ein Referendum zur Aussenpolitik genauso Stellung nehmen wie zur Verfassung und zu innerstaatlichem Recht.
In anderen Worten, das Risiko, dass die Schweiz juristisch von der EU «verschluckt» wird, bleibt minimal, da die demokratische Kontrolle, die der SVP so teuer ist, bereits beim Abschluss zahlreicher internationaler Texte zum Tragen kommt.
11. Wird das Schweizer Recht tatsächlich von RechtsprofessorInnen und Beamten ausgearbeitet, wie es die SVP sagt?
Die Quellen des Schweizer Rechts sind ausnahmslos das geschriebene Recht (die Verfassung und die Gesetze). Sie werden ergänzt durch die Rechtsprechung (die Rechtsauslegung durch die Gerichte), die Rechtslehre (die Analyse der Gesetze und der Rechtsprechung durch AkademikerInnen) sowie das Gewohnheitsrecht (die ungeschriebenen Regeln, die sich anhand der konstanten Rechtsprechung des Bundesgerichts sowie der politischen und administrativen Behörden entwickeln).
Die RichterInnen und die ProfessorInnen spielen also eine wichtige Rolle, aber die Hauptquelle des Rechts bleibt die Verfassung; und jede Verfassungsänderung muss der Stimmbevölkerung und den Ständen zur Abstimmung vorgelegt werden.
Die Gewaltentrennung sieht vor, dass das Parlament die Gesetze ausarbeitet, die Regierung sie anwendet und die Justiz überprüft, ob sie korrekt angewendet werden. Es ist also weder Sache der Stimmbevölkerung, noch des Parlaments zu überprüfen, ob die Gesetze korrekt angewendet werden, sondern Sache der RichterInnen. Sie erfüllen damit nur ihre Pflicht.
Was Beamte und ProfessorInnen angeht, auf die die SVP anspielt: sie können nur beratend tätig werden und darüber informieren, dass dieser oder jener Gesetzesvorschlag bei einer Inkrafttretung zu Problemen führen könnte. Aber weder die RichterInnen, noch die ParlamentarierInnen müssen auf diese Einschätzungen hören.
12. Hat das «Volk» immer Recht?
Nein, das «Volk» steht nicht über dem Gesetz und muss sich daran halten. Hätte die Stimmbevölkerung zum Beispiel Recht, wenn es die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern würde oder ein Verbot der französischen Sprache in der Schweiz? Natürlich nicht. Auch wenn in unserem demokratischen System die Stimmberechtigten entscheiden dürfen, hat die Mehrheit deshalb nicht immer Recht bei ihrer Wahl. Selbst die Stimmbevölkerung braucht einen Referenzrahmen. Die SVP darf nicht vergessen, dass unser politisches System Absicherungen enthält, sei es durch den Schutz von Minderheiten, durch das garantierte Zweikammernsystem des Parlaments, durch den Föderalismus oder durch die doppelte Mehrheit, die für bestimmte Volksabstimmungen nötig sind.
Ohne diese und weitere Absicherungen, wie das zwingende Völkerrecht – das ius cogens[11] – könnte eine Initiative eingereicht werden, die zum Beispiel den Französischunterricht in der ganzen Schweiz verbieten würde und das Deutsche zur einzigen offiziellen Sprache der Schweiz machen würde. Wenn die Stimmberechtigten diese Initiative annehmen würden (unter der Annahme, dass alle deutschsprachigen WählerInnen, die gegenüber den französischsprachigen WählerInnen in der Mehrheit sind, diese annehmen würden), hätte die französischsprachige Minderheit keinen Zugang mehr zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um dort ihre Rechte einzufordern.
13. Kann die Schweiz auf sich alleine gestellt die Menschenrechte wirklich schützen?
Die UnterstützerInnen der Initiative sind der Ansicht, alle Rechte, die in der EMRK festgehalten sind, stehen auch in unserer Verfassung (was richtig ist), und deshalb benötigen wir die EMRK und erst recht die RichterInnen aus Strassburg nicht, um sie zu respektieren und umzusetzen (was falsch ist).
Eine Annahme der Initiative würde langfristig zum Ausstieg aus der EMRK führen. Doch ohne diese Konvention würde die Schweiz das wichtigste internationale Instrument verlieren, das die Einhaltung der Menschenrechte garantiert. Die Schweiz wäre ohne juristischen Schutz, wenn Bundesgesetze diese Rechte verletzen sollten.
Die Schweiz verfügt tatsächlich über keine Verfassungsgerichtbarkeit für Bundesgesetze. Das Bundesgericht könnte deshalb unsere Rechte nicht mehr schützen, wenn ein Bundesgesetz gegen diese Rechte verstossen würde, auch wenn diese in der Verfassung garantiert sind. Der Schutz der in der Verfassung festgehaltenen Grundrechte, welche mit der EMRK übereinstimmen, ist gemäss geltendem Art. 190 BV nur dank dem Vorrang des Völkerrechts und damit der EMRK möglich.
14. Müsste die Schweiz bei Annahme der Initiative die EMRK kündigen und aus dem Europarat austreten?
Langfristig ja. Die BefürworterInnen der Initiative nehmen dies offen in Kauf.[12] Sie gehen davon aus, dass die Schweiz eines Tages von Strassburg für eine Verletzung der EMRK verurteilt wird. Da Schweizer Recht über dem Völkerrecht stehen wird, müsste sich die Schweiz dann nicht an den Entscheid aus Strassburg halten. Wenn sich dieses Szenario wiederholt, müsste die Schweiz früher oder später die EMRK kündigen, was auch den Austritt aus dem Europarat nach sich ziehen würde.
Damit wäre die Schweiz in Europa völlig isoliert und würde ihr Gewicht, das sie im Moment bei internationalen Verhandlungen noch hat, verlieren und an Glaubwürdigkeit einbüssen.
Man darf nicht vergessen, dass der Europarat nicht nur aus der EMRK besteht. Die Schweiz hat den Grossteil der 221 Konventionen des Europarats ratifiziert. Die Themen reichen von der Bekämpfung von Menschenhandel, Terrorismus oder Doping, über Umweltschutz bis zum Schutz von nationalen Minderheiten. Die Rechtsstellung all dieser Konventionen wäre völlig ungewiss.
Wenn die Schweiz nicht mehr im Europarat vertreten wäre, würde sich die Schweiz auf der gleichen Stufe wie Weissrussland wiederfinden, dem einzigen europäischen Land, das nicht im Europarat vertreten ist (da sie immer noch die Todesstrafe anwenden); oder wie Griechenland, das in den schlimmsten Jahren der Militärdiktatur die EMRK gekündigt hat; oder wie die Türkei, die sich nach dem versuchten Militärcoup im Juli 2016 im Ausnahmezustand befindet und deshalb angekündigt hat, die Anwendung der EMRK ausser Kraft zu setzen; oder wie Russland, das 2015 beschlossen hat, die Entscheide des Gerichtshofs in Strassburg nicht mehr umzusetzen, wenn sie nicht mit ihrer Verfassung vereinbar sind.[13]
15. Welche Konsequenzen hätte eine Kündigung der EMRK durch die Schweiz für die anderen Mitglieder des Europarats, insbesondere für diejenigen, welche die Entscheide des Gerichtshofs nicht anwenden?
Es ist klar, dass die Schweiz mit einer Kündigung der EMRK und damit dem Austritt aus dem Europarat ein katastrophales Zeichen für die anderen europäischen Staaten setzen würde. Einzelne von ihnen haben ja bereits angedroht, ähnliches zu machen, so auch Grossbritannien. Da die Schweiz eines der am wenigsten von Strassburg verurteilten Ländern ist und einen Ruf als ein Land geniesst, in dem die Menschenrechte eingehalten werden, hätte dieses Zeichen noch sehr viel mehr Gewicht.
Die Staaten, die aus unterschiedlichen Gründen grosse Schwierigkeiten damit haben, die Entscheide des Gerichtshofs umzusetzen, würden dadurch sicherlich nicht ermuntert, ihre Situation zu bereinigen. Wenn selbst die Musterschüler entscheiden, die ERMK nicht mehr zu respektieren, brauchen sie sich ja erst recht nicht mehr anzustrengen. Wir würden in eine Abwärtsspirale geraten, und es wäre zu befürchten, dass die EMRK längerfristig alle Autorität verlieren würde und damit der Rückkehr der Menschenrechtsverletzungen in Europa Tür und Tor geöffnet würde.
Wenn die Schweiz sagt, sie wird die Menschenrechte nur noch einhalten, wenn sie mit Bundesrecht vereinbar sind, würde sie ausserdem ihre Legitimation verlieren, einen Sitz im Uno-Menschenrechtsrat zu haben oder Menschenrechtsdialoge mit Staaten wie dem Iran oder China zu führen.
16. Warum benötigen wir die EMRK, wenn die wichtigsten Menschenrechte bereits in unserer Verfassung verankert sind?
Art 190 der Bundesverfassung hält fest: „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.“ Da es in der Schweiz keine Kontrolle zur Verfassungsmässigkeit der Gesetze gibt, kann man ein Bundesgesetz nicht angreifen, wenn es eines der in unserer Verfassung festgeschriebenen Grundrechte verletzt. Dank Art. 190 lässt sich aber überprüfen, ob dieses Gesetz mit dem entsprechenden Recht in der EMRK kompatibel ist.
Deshalb ist das Argument der BefürworterInnen der Initiative, dass der Schutz der Menschenrechte für alle in der Schweiz lebenden Menschen durch die in der Verfassung festgelegten Grundrechte gewährt ist, falsch.
17. Eine Einschränkung eines Grundrechts benötigt immer eine Interessenabwägung. Können unsere eigenen RichterInnen das nicht besser, als fremde RichterInnen? Haben wir zu wenig Vertrauen in unser eigenes Rechtssystem?
Man darf nicht vergessen, dass jeweils ein Schweizer Richter oder eine Schweizer Richterin im Richterkollegium vertreten ist, wenn eine Entscheidung für oder gegen die Schweiz beim EGMR gefällt wird. (Manchmal sind es sogar zwei Schweizer RichterInnen, wenn Liechtenstein von der Schweiz vertreten wird.)
Die Entscheide aus Strassburg sind also keine Entscheide, die von fremden RichterInnen gefällt werden. Darüber hinaus nehmen sich die RichterInnen in Strassburg die nötige Zeit, um die Probleme eines Urteils zu verstehen, bevor sie einen Entscheid fällen, auch wenn sie selbst die Feinheiten eines bestimmten Rechtssystems nicht kennen. Deshalb dauert es teilweise sehr lange, bis ein Urteil vom Gerichtshof gefällt wird.
Wenn auch manchmal «fremde» RichterInnen ein kritisches Auge auf unsere Gesetzgebung werfen, so ist auch das Gegenteil der Fall, nämlich dass Schweizer RichterInnen Urteile zu den anderen 46 Mitgliedsstaaten des Europarats fällen. Diese Praxis wird schon seit Jahrzehnten angewendet, und die Schweiz hat dadurch viel zur Entwicklung der Rechtssprechung in Strassburg beigetragen.
18. Könnte bei Annahme der Initiative die Todesstrafe durch eine Abstimmung in unserem Land wieder eingeführt werden, weil deren Verbot nicht zum zwingenden Völkerrecht gehört?
Theoretisch ist dies vorstellbar, auch wenn es in der Praxis eher unwahrscheinlich ist, denn die Schweiz hat, abgesehen von der EMRK, das 2. Zusatzprotokoll des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert, das die Todesstrafe verbietet. Dieses Protokoll enthält keine Kündigungsklausel, deshalb wäre die Schweiz weiterhin verpflichtet, die Todesstrafe zu verbieten.
Die Wiedereinführung der Todesstrafe würde aber eine sofortige Suspendierung aus dem Europarat und längerfristig einen Ausschluss nach sich ziehen.
19. Der EGMR behandelt immer mehr Fälle. Die Schweiz wurde nur selten verurteilt, aber unsere RichterInnen berücksichtigen die Entscheide des EGMR zu anderen Ländern in ihren Urteilen. Bedeutet dies nicht, dass der Einfluss von Strassburg mit der Zeit zunimmt?
Es ist normal, dass die Gerichte in den Mitgliedstaaten die Entscheide aus Strassburg zu anderen Ländern in ihren Urteilen miteinbeziehen. Der EGMR wendet eine Rechtsprechung an, die für alle Mitgliedstaaten des Europarats gleich sein soll. Deshalb ist klar, dass eine Verurteilung Frankreichs oder Bulgariens für eine ähnliche Situation auch auf die Schweiz angewendet würde, wenn sie sich in Zukunft genauso verhalten würde wie diese beiden Länder. Unsere Gerichte wenden also die Entscheide aus Strassburg an, um eine Verurteilung durch den EGMR zu vermeiden und damit die Anwendung der Menschenrechte in Europa harmonisiert wird.
Man kann dies tatsächlich als einen zunehmenden Einfluss aus Strassburg sehen, aber man kann es auch positiv als gleiche Anwendung der Rechtsprechung für alle Menschen in Europa sehen, einer Rechtsprechung, zu deren Entwicklung die Schweiz einen grossen Teil beigetragen hat.
20. Hätte ein Ja zur Initiative Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unsere Handelsbeziehungen?
Der Wirtschaftsverband Economie Suisse spricht sich dezidiert gegen die Initiative aus. Er betrachtet die Initiative als frontalen Angriff auf die Wirtschaftsinteressen, da es die starken Verbindungen der Schweiz mit der Weltwirtschaft und die Teilnahme unseres Landes am europäischen Binnenmarkt bedroht.
Gemäss ihnen hätte die Annahme der Initiative Auswirkungen auf Hunderte von Wirtschaftsabkommen und würde eine ständige Rechtsunsicherheit schaffen. Sie würde den Abschluss von bilateralen oder multilateralen Abkommen mit Handelspartnern in der ganzen Welt verkomplizieren oder sogar verunmöglichen.
Die Schweiz benötigt Beziehungen mit ihren Handelspartnern in der ganzen Welt, die sich am Völkerrecht orientieren. Wenn man als Kläger oder als Verteidiger keine internationalen Gerichtsverfahren nutzen kann, die auf internationalen Abkommen basieren, würden unsere Unternehmen den entscheidenen minimalen Schutz gegenüber der internationalen Konkurrenz in der Schweiz und im Ausland verlieren und dadurch ständig benachteiligt. Eine solche Situation wäre laut Economie Suisse für Schweizer Exportunternehmen eine Katastrophe.
[1] http://www.svp.ch/kampagnen/uebersicht/selbstbestimmungsinitiative/um-was-geht-es/#kampagneSubNav
[2] https://www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis460t.html
[3] Argumentarium: Volksinitiative „Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)“ vom 10. März 2015 http://www.svp.ch/kampagnen/uebersicht/selbstbestimmungsinitiative/argumentarium/#032 Seiten 4 und 5
[4] Es gibt zum zwingenden Völkerrecht keinen Konsens. Die SVP schränkt es ein auf das Verbot der Folter, Verbot des Völkermords, Verbot des Angriffskriegs, Verbot der Sklaverei, und Verbot der Rückschiebung in einen Staat, in welchem Tod oder Folter drohen.
[5] Artikel 5 Abs. 1 BV
[6] Artikel 5 Abs. 4, zweiter Satz BV
[7] Artikel 56a BV
[8] Artikel 190 BV
[9] Artikel 5 Abs. 4, erster Satz BV
[10] Volksinitiative zur Umsetzung von Volksentscheiden – Schweizer Recht geht fremdem Recht vor, Positionspapier der Schweizerischen Volkspartei (SVP), S. 2 http://www.svp.ch/de/assets/File/Positionspapier_def.pdf?doaction=return&emailid=37A9D0E7-E505-465D-AEF11E5638CB0C5A&[email protected]&nocache=1
[11] Alle Normen des zwingenden Völkerrechts. Gemäss Art. 53 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge handelt es sich hierbei um „eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf (…)“.
[12] Argumentarium der SVP, Kap. 5.2.4
[13] siehe http://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/nachrichten/europarat/russland-egmr-urteile-ignorieren