© Adrian Grycuk / wikimedia CC
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50 Jahre EMRK in der Schweiz Warum die EMRK so wichtig ist wie nie

25. November 2024
Vor 50 Jahren, am 28. November 1974, trat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Schweiz in Kraft. Seither gab es immer wieder Kritik an der Rechtsprechung aus Strassburg. Dennoch: Im Bereich der Menschenrechte hat die Konvention in der Schweiz viel vorangebracht.

Die Schweiz sieht sich gerne als Vorzeigeland im Bereich der Menschenrechte. Dennoch unterzeichnete die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erst 1974. Dabei hatte der 1949 gegründete Europarat die Konvention, welche einen Katalog von elementaren Menschenrechten enthält, bereits 1950 verabschiedet. Warum wartete die Schweiz so lange mit der Ratifizierung?

Die Antwort liegt in der Universalität der Menschenrechte: Sie gelten für alle Menschen, nicht nur für die Männer. Für die Schweiz, in der Frauen Ende der 1960er Jahre – als die Ratifizierung intensiv besprochen wurde – kein Stimmrecht hatten, stellte dies ein Problem dar. Der Bundesrat erwog eine Unterzeichnung der EMRK unter Vorbehalt, ohne die politische Gleichberechtigung von Männern und Frauen garantieren zu müssen.

Die Frauenverbände liessen das nicht auf sich sitzen und protestierten. Letztendlich führten diese Proteste und die Tatsache, dass die Schweiz international nicht ins Hintertreffen geraten wollte, zur Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene. Kurz darauf ratifizierte die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention. Das Frauenstimmrecht in der Schweiz wurde somit – indirekt – auch von der EMRK gefördert.

Viele Fortschritte in der Schweiz dank Urteilen

Doch nicht nur im Bereich der Frauenrechte machte die Schweiz dank der EMRK Fortschritte: Ein konfessioneller Ausnahmeartikel, der unter anderem gegen die Jesuit*innen gerichtet war und der Religionsfreiheit widersprach, wurde aus der Bundesverfassung gestrichen. Und weitere Verbesserungen folgten: Die Verfahrensrechte von Angeklagten wurden gestärkt, die Prozessordnung reformiert und die administrative Versorgung abgeschafft. Diskriminierungen bei der Namenswahl wurden beseitigt, die freie Rede verteidigt und die Bespitzelung des Privatlebens eingeschränkt.  

Die Ratifizierung der Konvention brachte also spürbare Verbesserungen für die Menschenrechte – auch auf individueller Ebene. Denn die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sieht ein Durchsetzungsverfahren vor, das es einem Individuum sowie Personengruppen und Staaten erlaubt, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg eine Beschwerde wegen Verletzung der EMRK durch einen Vertragsstaat zu erheben. Wird ein Land verurteilt, muss es Massnahmen ergreifen, wie zum Beispiel Gesetzesänderungen, um eine weitere Rechtsverletzung zu verhindern. Die EMRK und das EGMR stellen bis heute für viele Opfer von staatlichen Menschenrechtsverletzungen in Europa die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit dar.

Die Türkei, Russland, die Ukraine und Rumänien wurden in den vergangenen drei Jahren am häufigsten angeklagt. Dabei geht es um gravierende Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Misshandlung von Gefangenen, Verfolgung von Medienschaffenden, Polizeigewalt oder Diskriminierung.

Doch auch die Schweiz beschäftigt den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder: Rund 280 Beschwerden werden pro Jahr gegen die Schweiz eingereicht, am häufigsten wegen Missachtungen des Rechts auf ein faires Verfahren und der Meinungsfreiheit oder wegen Verstössen gegen das Diskriminierungsverbot. Trotz der vielen Beschwerden: Zu Verurteilungen der Schweiz kommt es in nur rund drei Prozent der Fälle.

Schutz vor Folter, Polizeigewalt und Rassismus

So etwa 2020 im Falle eines afghanischen Geflüchteten, der von der Schweiz nach Afghanistan zurückgeführt werden sollte, obwohl er vom Islam zum Christentum konvertiert war und ihm in Afghanistan grosse Gefahr drohte. Das EGMR kam zum Schluss, dass seine Rückführung den Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzen würde, welcher Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet. Die Schweiz hatte zu wenig genau geprüft, welche Auswirkungen und Gefahren eine Rückkehr des Geflüchteten nach Afghanistan hätte. Christ*innen werden von den Taliban in Afghanistan massiv verfolgt, konvertierten Christ*innen droht gar die Todesstrafe. Das EGMR hielt fest, dass Personen nicht rückgeführt oder ausgeschafft werden dürfen, wenn ihnen aufgrund ihrer Religion Gewalt und Folter drohen. Nach dem Urteil des EGMR wurde der Fall in der Schweiz neu aufgerollt.

Bereits im Jahr 2013 wurde die Schweiz wegen einer Verletzung von Artikel 3 der EMRK verurteilt – zum ersten Mal überhaupt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam zum Schluss, dass zwei Genfer Polizisten bei einer Identitätskontrolle unverhältnismässige Gewalt angewendet hatten. Der Beschwerdeführer aus Burkina Faso war am 2. Mai 2005 von den Polizisten angehalten und gebeten worden, sich auszuweisen. Während dieser Identitätskontrolle sollen die Polizisten den Mann aus Burkina Faso rassistisch beschimpft, tätlich angegriffen und sogar mit dem Tode bedroht haben – und dies, obwohl er der Aufforderung, sich auszuweisen, nachgekommen war. Der Beschwerdeführer erlitt laut medizinischem Gutachten eine Fraktur des rechten Schlüsselbeins und musste krankgeschrieben werden.

Für die Opfer von Polizeigewalt ist dieses Urteil von grosser Bedeutung: Das Gericht hielt eindeutig fest, dass unverhältnismässige Polizeigewalt nicht geduldet werden darf und angemessen, unabhängig und rasch untersucht werden muss – insbesondere auch dann, wenn rassistische Motive im Spiel sein könnten.

Doch es gab auch Kritik am Urteil: Die Schweizer Richterin Helen Keller hielt das Vorgehen der beiden Polizisten für absolut notwendig und verhältnismässig. Laut ihrer Beurteilung liess sich aus den erhobenen Beweisen auf keinen Fall der Schluss ziehen, der Beschwerdeführer sei unmenschlich oder erniedrigend behandelt worden.

Immer wieder Kritik und Austrittsdrohungen

Kritik an der EMRK und dem EGMR ist in der Schweiz keine Seltenheit, im Gegenteil. Schon in den 1970er und 1980er Jahren gab es nach missliebigen EGMR-Urteilen erhitzte Parlamentsdebatten und Forderungen nach einem Austritt. Mit der Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter» lancierte die SVP einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat und die Grundrechte: Betroffene hätten sich nicht mehr auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und andere völkerrechtliche Verträge berufen können, und wären Willkür und Diskriminierung ausgesetzt gewesen. Denn die Menschenrechte hätten bei Annahme der Initiative durch Mehrheitsbeschlüsse eingeschränkt werden können. Die Initiative wurde in der Volksabstimmung 2018 zwar deutlich bachab geschickt, doch die Angriffe auf die EMRK hörten nicht auf – und verschärfen sich heute wieder. Mehrere Vorstösse der SVP forderten gar konkret den Austritt aus der EMRK.

Anlass war der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz». Eine Gruppe von mehr als 2500 älteren Schweizerinnen argumentierte, dass das Versäumnis der Schweizer Regierung, angemessene Massnahmen gegen den Klimawandel zu treffen, ihre Menschenrechte auf Gesundheit und Leben verletze und sie während Hitzewellen in Lebensgefahr bringe. Das Gericht in Strassburg gab ihnen Recht – und fällte somit das erste wegweisende Urteil des EGMR zu Verantwortung der Staaten in der sich rasch verschärfenden Klimakrise.

Für viele Politiker*innen ging dieses Urteil zu weit. Das Parlament fordert den Bundesrat in der Sommersession auf, dem Urteil keine Folge zu leisten. Der Bundesrat kritisierte «die weite Auslegung der EMRK durch den EGMR» und meinte, er habe das Klima-Urteil bereits ausreichend umgesetzt.

Die Schweiz und Europa brauchen den Menschenrechtsschutz

Diese Standpunkte sind gefährlich: Denn die Schweiz signalisiert damit, dass sie sich nicht mehr an die Konvention und die Urteile des Gerichts gebunden fühlt – oder nur dann, wenn es einer Mehrheit im Parlament oder der Regierung gerade passt. Fängt die Schweiz an, die Urteile des EGMR zu missachten, gefährdet dies das gesamte System, das auf der Verbindlichkeit der Urteile beruht. Die Länder mit repressiven Tendenzen und mangelhafter Gewaltentrennung werden gestärkt, was zu einer Erosion rechtsstaatlicher Leitplanken in ganz Europa führen kann. Eine «à-la-carte»-Umsetzung von EGMR-Urteilen, oder gar eine Kündigungswelle der EMRK, würde nicht nur die gemeinsame Wertebasis gefährden und den Menschenrechtsschutz schwächen, sondern auch zu grösserer Unsicherheit und Instabilität in Europa führen.

In Zeiten, in denen Angriffe auf die Menschenrechte ständig zunehmen, ist daher der Schutz von völkerrechtlichen Institutionen wie der EMRK wichtiger denn je. Staaten, die Menschenrechtsverbrechen begehen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden können. Die Schweizer Regierung sollte sich also auch die nächsten 50 Jahre vehement für die EMRK und das Völkerrecht aussprechen. Nur so kann verhindert werden, dass es zu einer Ausbreitung der Straflosigkeit kommt. Nur so kann garantiert werden, dass die Rechte von allen Menschen geschützt werden – auch von Minderheiten. Und nur so können die Grundfesten unserer Demokratie bewahrt werden.