© RDB Ringier
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Europäische Menschenrechtskonvention Der Kampf einer Mutter

Mai 2014
Isabelle Neulinger schmuggelt ihr zweijähriges Kind aus Israel in die Schweiz. Sie will den Sohn dem Einfluss ihres ultra-orthodoxen israelischen Ehemannes entziehen. Zurück in der Heimat beginnt der Kampf erst richtig.

In einer Nacht und Nebel-Aktion fährt Isabelle Neulinger im Juni 2005 mit ihrem kleinen Sohn über die israelische Grenze ins ägyptische Taba. Das Kind ist in einer Tauchtasche versteckt. Die Flucht erscheint ihr als letzte Chance:

«In dieser Nacht ging es um Alles oder Nichts», erzählt die Mutter. «Am Ende der Fahrt: Ägypten, die Freiheit. Oder: Gefängnis für mindestens fünfzehn Jahre. Und Noam, mein Baby, für den ich das Alles mache, würde mir für immer weggenommen.»

Neulinger, selbst Jüdin mit israelischem, belgischem und Schweizer Pass, wohnt mit Mann und Kind in Israel. Doch schleichend verändert sich ihr Mann, vom weltoffenen charmanten Sportlehrer zum religiösen Fanatiker. Von der Familie verlangt er ein Leben nach streng ultra-orthodoxen Regeln. Neulinger trennt sich, erhält das Sorgerecht für Noam, wird geschieden. Nach Morddrohungen von ihrem Ex bekommt sie Angst und flieht ausser Landes.

Zurück in Lausanne wähnt sie sich und ihr Kind in Sicherheit. Doch Interpol spürt sie auf, weil ihr Mann sie wegen Kindesentführung verklagt hat. Vor dem Lausanner Bezirks- und später Kantonsgericht bekommt Isabelle Neulinger Recht, Noam darf bei seiner Mutter bleiben. Doch dann, 2007, ordnet das Bundesgericht die Rückführung des Jungen nach Israel an, innert fünf Wochen. «Das war ein grosser Schock», beschreibt Neulinger diesen Moment.

Die Mutter kämpft weiter. Schafft es bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Doch der bestätigt das Bundesgerichtsurteil. Die Anwälte rufen in einem letzten Versuch die Grosse Kammer des EGMR an. Gegen alle Erwartung und bisherige Rechtsprechung spricht diese sich dafür aus, das Kind bei der Mutter zu lassen. Neulinger konnte es erst gar nicht glauben: « Ich habe gewonnen! Ich darf meinen Sohn bei mir aufwachsen sehen, frei in seinen Überzeugungen.» Zum ersten Mal hat ein supranationales Gericht das Recht eines Kindes höher gewertet als alles Andere.