Nach mehreren Jahren der Vorbereitung kommt im Sommer die vieldiskutierte Reform des Sexualstrafrechts in eine entscheidende Phase. Die Rechtskommission des Ständerats hat zwei Varianten zur Revision der Artikel 189 und 190 im Strafgesetzbuch vorgelegt, und am 7. Juni soll der Ständerat über die beiden vorliegenden Vorschläge entscheiden. Amnesty International fordert klar die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung. Unsere Argumente dafür finden Sie hier. Zum Start der Sommersession am Montag, 30. Mai werden wir unsere Position an einer Kundgebung auf dem Waisenhausplatz in Bern erneut betonen. Sie sind herzlich eingeladen, vorbeizukommen und sich mit Betroffenen und unterstützenden Organisationen auszutauschen.
Neben dieser wichtigen Reform wird die Antwort der Schweizer Politik auf den Krieg in der Ukraine weiterhin für Diskussionen sorgen. Aus menschenrechtlicher Perspektive steht die Verfolgung von Kriegsverbrechen und die Stärkung des Schutzes und der Hilfe für bedrohte Menschen im Vordergrund.
Die Forderungen der Zivilgesellschaft an die Schweiz mit Blick auf die in Lugano geplante Ukraine-Konferenz sowie unsere Positionen zu aktuellen Parlamentsgeschäften finden Sie im Anschluss.
Übersicht (Nach Themen)
Sexualisierte und häusliche Gewalt
Aussenpolitik
Ukraine
Afghanistan
21.3976 - Motion - Krise in Afghanistan. Beitrag der Schweiz zu Stabilität und Frieden in der Region
21.3976 - Motion - So schnell wie möglich wieder eine Vertretung in Kabul einrichten
Asyl und Migration
21.310 - Standesinitiative - Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren
Sport und Menschenrechte
Klimagerechtigkeit
Sexualisierte und häusliche GEwalt
SR, Dienstag, 7. Juni 2022
18.043 - Geschäft des Bundesrates - Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht (Revision des Sexualstrafrechts)
Die vieldiskutierte Revision des Sexualstrafrechts kommt in eine entscheidende Phase: der Ständerat hat die historische Chance, ein modernes Sexualstrafrecht zu schaffen, welches wirksam vor sexualisierter Gewalt schützt und den Erwartungen von betroffenen Personen gerecht wird. Aktuell ist eine noch ungenügende Lösung in der Pole-Position.
Die Rechtskommission des Ständerats hat zwei Varianten zur Revision der Artikel 189 und 190 im Strafgesetzbuch vorgelegt, und am 7. Juni soll der Ständerat über die beiden vorliegenden Vorschläge diskutieren. Amnesty fordert eine zeitgemässe, konsensbasierte Reform des Sexualstrafrechts, die von sexualisierter Gewalt Betroffenen gerecht wird.
In den beiden vorliegenden Varianten fällt die Nötigung im Grundtatbestand von Artikel 189 (sexueller Übergriff) und 190 (Vergewaltigung) weg. Der «Nein heisst Nein»-Ansatz – auch «Widerspruchslösung» genannt – möchte sexuelle Handlungen «gegen den Willen» einer Person unter Strafe stellen und basiert also nach wie vor auf der Abwehrhaltung des Opfers.
Lediglich die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung – oder «Zustimmungslösung» setzt die non-verbale oder verbale Zustimmung voraus, indem sexuelle Handlungen «ohne die Einwilligung» einer beteiligten Person bestraft würden. Die Mehrheit der Rechtskommission des Ständerats hat sich zuletzt für die Widerspruchslösung ausgesprochen. Aus menschenrechtlicher Sicht ist Amnesty International, wie der grösste Teil der Einwohner*innen der Schweiz, der Überzeugung, dass die «Zustimmungslösung» allerdings der «Widerspruchslösung» klar vorzuziehen ist. Folgende Gründe sprechen dafür:
- Das Einholen von Zustimmung vor dem Sex entspricht der gelebten Realität und gesellschaftlichen Erwartung;
- Die Zustimmungslösung ist opfergerecht und deckt reale Situationen sexualisierter Gewalt am besten ab;
- Die Zustimmungslösung ist international gefordert und in der Praxis umsetzbar!
Entsprechend fordert Amnesty International den Ständerat auf, der Minderheit der Kommission zu folgen und mit einer zeitgemässen Reform des Sexualstrafrechts dafür zu sorgen, dass sexuelle Handlungen «ohne die Einwilligung» einer beteiligten Person angemessen bestraft werden können.
SR, Montag, 13. Juni 2022
22.3234 - Motion - Krisenzentren für Opfer von sexualisierter, häuslicher und geschlechtsbezogener Gewalt
Das Angebot an Unterstützung und Schutz für Opfer sexualisierter Gewalt variiert stark von Kanton zu Kanton. In mehreren Regionen der Schweiz ist es ungenügend. Mit dieser Motion würden nicht nur die Anforderungen von Artikel 25 der Istanbul-Konvention erfüllt, der die Einrichtung von Nothilfezentren für Opfer sexueller Gewalt fordert, sondern auch Artikel 4, der die Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung der Opfer in der Schweiz gewährleisten soll.
Solche Nothilfezentren sind kein neues Konzept, sondern haben sich in einigen Kantonen bereits seit mehreren Jahren bewährt. Die Tatsache, dass dennoch etliche Kantone keine solche Angebote eingeführt haben, unterstreicht die Notwendigkeit von minimalen Standards auf Bundesebene. Menschen, die sexualisierte oder häusliche Gewalt erlebt haben, würden von solchen Nothilfezentren in der ganzen Schweiz stark profitieren.
Wie eine von gfs.bern 2019 durchgeführte Umfrage gezeigt hat, verzichtet die überwiegende Mehrheit der Opfer nach dem Übergriff auf eine Anzeige. Die Sicherung der Gewaltspuren in einem Krisenzentrum würde es ihnen ermöglichen, dies später zu tun, wenn sie dies wünschen. Dies könnte dazu beitragen, die weitgehende Straflosigkeit von sexuellen Gewaltverbrechen zu verringern.
Amnesty International empfiehlt daher dem Ständerat, Motion 22.3234 anzunehmen.
Aussenpolitik
Ukraine
SR, Donnerstag, 16. Juni 2022
22.3361 - Interpellation - Die Schweiz muss alle internationalen Bemühungen, die für die Kriegsverbrechen in der Ukraine Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, unterstützen
Im Ukraine-Konflikt werden massenhaft nach internationalem Recht strafbare Verbrechen begangen. Darunter auch geschlechtsspezifische Gewalt, von welcher insbesondere Frauen und Mädchen betroffen sind. Die Verantwortlichen dieser Verbrechen – auch dem Verbrechen der Aggression – müssen in unabhängigen, unparteiischen und fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden.
Amnesty International ruft auch die Schweiz dazu auf, ihre Anstrengungen im Bereich der internationalen Gerichtsbarkeit zu intensivieren. Dies namentlich durch eine stärkere finanzielle und politische Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs, durch die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und durch eigene Untersuchungen der Schweizer Strafverfolgungsbehörden zu den Verbrechen in der Ukraine. Für letzteres ist die Schaffung der dafür notwendigen Strukturen und Ressourcen zwingend, damit die Verbrechen aller Konfliktparteien untersucht werden können.
Zusammen mit der NGO Plattform Menschenrechte und im Hinblick auf die von der Schweiz organisierte Ukraine Konferenz vom 4. bis 5. Juli in Lugano hat Amnesty International eine Serie von Erwartungen formuliert. Diese sollten auch für die Sommersession des Parlaments richtungsweisend sein.
Afghanistan
SR, Donnerstag, 16. Juni 2022
21.3976 - Motion - Krise in Afghanistan. Beitrag der Schweiz zu Stabilität und Frieden in der Region
Motion 21.3976 fordert den Bundesrat auf, einen grösseren Beitrag zu Stabilität und Frieden und zur Stärkung der Menschenrechte in der Region zu leisten. Während Amnesty International die Stossrichtung der Motion unterstützt, muss ein solches Engagement gekoppelt sein mit einem klaren Bekenntnis zum Schutz von gefährdeten Personen.
Dies sollte insbesondere durch die Aufnahme einer bedeutenden Anzahl bedrohter Afghan*innen sowie die Schaffung neuer Resettlement-Plätze, die erleichterte Visa-Erteilung und die Erleichterung der Familienzusammenführung geschehen.
NR, Montag, 13. Juni 2022
21.4045 - Motion - So schnell wie möglich wieder eine Vertretung in Kabul einrichten
Motion 21.4045 fordert, dass die Schweiz schnellstmöglich wieder eine Vertretung in Kabul einrichten soll. Angesichts der Wichtigkeit der Erteilung von humanitären Visa für bedrohte Personen und der Erleichterung der Familienzusammenführung unterstützt Amnesty International dieses Anliegen.
Asyl und Migration
NR, Donnerstag, 9. Juni 2022
21.310 - Standesinitiative - Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren
Die Standesinitiative 21.310 fordert die Bundesbehörden auf, sicherzustellen, dass Menschen auf den griechischen Inseln in der Schweiz Schutz geboten wird, damit ihnen hier ein ordentliches Asylverfahren gewährleistet werden kann.
Amnesty International begrüsst die Annahme durch die SPK-S der Forderung aus dem Kanton Basel-Stadt, welche die Aufnahme von mehr schutzsuchenden Menschen fordert, die aktuell auf den griechischen Inseln ausharren. Entsprechend bedauert Amnesty International, dass die SPK-N keine Folge gegeben hat. Wir empfehlen dem Nationalrat dies zu korrigieren und die Standesinitiative anzunehmen.
Sport und menschenrechte
NR, Montag, 13. Juni 2022
21.4444 - Postulat - Wie sorgt der Bundesrat dafür, dass die Fifa und das IOC ihren Verpflichtungen nachkommen?
Postulat 21.4444 möchte den Bundesrat beauftragen, zu prüfen und in einem Bericht darzulegen, ob und inwiefern die Fifa und das IOC die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und die Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGP) einhalten.
Recherchen von Amnesty International zeigen auf, dass es bei der Vorbereitung und Durchführung von internationalen Sportveranstaltungen wie Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen zu teils massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen kommt. Aktuelles Beispiel ist die Fussball-Weltmeisterschaft in Katar 2022, wo die Vorbereitungsarbeiten mit Zwangsarbeit, Lohndiebstahl und Hunderten von ungeklärten Todesfällen einhergingen. Auch bei anderen Sportgrossveranstaltungen gilt: Die Weltsportverbände unternehmen nicht genügend, um negative Konsequenzen ihrer Tätigkeiten auf die Menschenrechte zu verhindern, zu mildern und zu entschädigen. Deshalb muss die Schweiz Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Sportverbände mit Sitz in der Schweiz, ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht gemäss den Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte nachkommen.
Entgegen der ablehnenden Haltung des Bundesrates empfiehlt Amnesty International das Postulat zur Annahme.
Klimagerechtigkeit
NR, Dienstag, 14. Juni 2022
21.501 - Pa. IV - Indirekter Gegenentwurf zur Gletscher-Initiative. Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050
Amnesty International teilt das Ziel der Gletscherinitiative, menschengemachte Treibhausgas-Emissionen auf Netto-Null zu senken, und fordert ebenfalls, dass fossile Energieträger so schnell wie möglich nicht mehr genutzt werden.
Die Menschenrechte und deren Schutz sind eng mit dem Klimawandel verknüpft, denn er hat nicht nur verheerende Auswirkungen auf die Umwelt, sondern auch auf unser eigenes Wohlergehen. Der Klimawandel bedroht nicht nur unsere Existenz, sondern hat auch schädliche Auswirkungen auf unsere Rechte auf Leben, Gesundheit, Nahrung, Wasser, Wohnung und Lebensunterhalt.
So fordert Amnesty International insbesondere, dass Massnahmen zum Schutz des Klimas auf eine menschenrechtsverträgliche Weise umgesetzt werden, und dass diese dazu dienen, Ungleichheiten zu reduzieren, statt zu fördern.
Amnesty International sieht den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative als einen ersten Schritt. Obwohl die darin enthaltenen Massnahmen ungenügend sein dürften und weitere Schritte nötig sind um die obengenannten Ziele zu erreichen, empfiehlt Amnesty International die Parlamentarische Initiative 21.501 zur Annahme.