In Zukunft soll sich auch strafbar machen, wer den Schockzustand eines Opfers ausnützt. Fraglich ist, ob damit alle Fälle erfasst sind, in denen das Opfer seine Ablehnung nicht deutlich machen kann – sei es aus Angst, Überraschung oder Überforderung. Obwohl «Nur Ja heisst Ja» weiterhin die beste Lösung darstellt, begrüsst Amnesty International den Vorschlag, weil die Schweiz damit einem konsensbasierten Sexualstrafrecht einen entscheidenden Schritt näherkäme.
Neben weiteren Geschäften im Bereich der Gendergerechtigkeit und der Asyl- und Migrationspolitik werden aussenpolitische Themen von Bedeutung sein. Der Aussenpolitische Bericht des Bundesrates gibt Einblicke in die Grenzen der Menschenrechtsdiplomatie vis-à-vis China, und mehrere Vorstösse versuchen die Schweizer Politik mit Blick auf die blutige Niederschlagung der Proteste im Iran zu schärfen.
Unsere Positionen zu diesen und anderen Geschäften der kommenden Session finden Sie hier.
Übersicht (Nach Themen)
Gender Justice
Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht
Krisenzentren für Opfer von sexualisierter, häuslicher und geschlechtsbezogener Gewalt
Bundesgesetz über das Gesichtsverhüllungsverbot
Aussenpolitik
Aussenpolitischer Bericht 2022
Iran
Unterstützung der iranischen Zivilgesellschaft
Erklärung des Nationalrates. Für Menschenrechte und Demokratie im Iran
Asyl/Migration
Psychische Gesundheit von Asylsuchenden. Berücksichtigung der Suizidgefahr und Prävention
Zivilgesellschaft
Gender Justice
STRAFRAHMENHARMONISIERUNG UND ANPASSUNG DES NEBENSTRAFRECHTS AN DAS NEUE SANKTIONENRECHT
STÄNDERAT - DIENSTAG, 07. MÄRZ 2023
18.043 / Geschäft des Bundesrates
Der Ständerat wird zum zweiten Mal über die Reform des Sexualstrafrechts (18.043, Entwurf 3) beraten. Nachdem der Ständerat in erster Lesung dem «Nein heisst Nein»-Modell den Vorzug gab, hat der Nationalrat in der Wintersession 2022 in einem wegweisenden Entscheid «Nur Ja heisst Ja» gewählt. Die Rechtskommission des Ständerates wiederum hat sich an ihrer letzten Sitzung ein Stück weit bewegt und Bedenken von Betroffenen aufgenommen.
Amnesty International setzt sich seit 2019 für eine Modernisierung des Sexualstrafrechts ein, die den internationalen Menschenrechtsstandards vollumfänglich entspricht und einen umfassenden Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ermöglicht. Wir unterstützen daher die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung für Absatz 1 der Artikel 189 und 190 des Strafgesetzbuches.
Dieses Modell wurde wiederholt von GREVIO und dem CEDAW-Ausschuss der Vereinten Nationen als ideale Lösung genannt, und bereits in 14 europäischen Ländern eingeführt. Wir bedauern daher, dass dieses Modell von der Rechtskommission des Ständerats nicht gewählt wurde, begrüssen aber die Tatsache, dass der Vorschlag der Kommission einen Schritt in Richtung dieser Lösung ermöglicht. Wir fordern den Ständerat auf, sicherzustellen, dass der endgültige Wortlaut der Artikel 189 und 190 die Vielfalt der Situationen berücksichtigt, in denen ein Opfer nicht in der Lage ist, ein ausdrückliches Nein zu äussern. Dies wird seit Jahren von Betroffenen und von vielen Organisationen und Fachleuten, die im Bereich der sexuellen Gewalt tätig sind, gefordert.
KRISENZENTREN FÜR OPFER VON SEXUALISIERTER, HÄUSLICHER UND GESCHLECHTBEZOGENER GEWALT
NATIONALRAT - DONNERSTAG, 16 MÄRZ 2023
22.3234 / Motion
Das Angebot an Unterstützung und Schutz für Opfer sexualisierter Gewalt variiert stark von Kanton zu Kanton. In mehreren Regionen der Schweiz ist es ungenügend. Mit dieser Motion würden nicht nur die Anforderungen von Artikel 25 der Istanbul-Konvention erfüllt, der die Einrichtung von Nothilfezentren für Opfer sexueller Gewalt fordert, sondern auch Artikel 4, der die Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung der Opfer in der Schweiz gewährleisten soll.
Solche Nothilfezentren sind kein neues Konzept, sondern haben sich in einigen Kantonen bereits seit mehreren Jahren bewährt. Die Tatsache, dass dennoch etliche Kantone keine solche Angebote eingeführt haben, unterstreicht die Notwendigkeit von minimalen Standards auf Bundesebene. Menschen, die sexualisierte oder häusliche Gewalt erlebt haben, würden von solchen Nothilfezentren in der ganzen Schweiz stark profitieren.
Wie eine von gfs.bern 2019 durchgeführte Umfrage gezeigt hat, verzichtet die überwiegende Mehrheit der Opfer nach einem Übergriff auf eine Anzeige. Die Sicherung der Gewaltspuren in einem Krisenzentrum würde es ihnen ermöglichen, dies später zu tun, wenn sie dies wünschen. Dies könnte dazu beitragen, die weitgehende Straflosigkeit von sexuellen Gewaltverbrechen zu verringern. Amnesty International empfiehlt daher dem Nationalrat, Motion 22.3234 anzunehmen.
EINE ABTREIBUNG SOLLTE IN ERSTER LINIE ALS EINE FRAGE DER GESUNDHEIT BETRACHTET WERDEN UND NICHT ALS STRAFSACHE
NATIONALRAT - MONTAG, 27. FEBRUAR 2023
22.432 / Parlamentarische Initiative
Amnesty International unterstützt die vollständige Entkriminalisierung der Abtreibung und folgt in diesem Sinne den Empfehlungen zahlreicher Menschenrechtsorgane, darunter dem Menschenrechtskomitee, dem WSK-Ausschuss und dem CEDAW-Komitee der Vereinten Nationen sowie der Weltgesundheitsorganisation.
Die Rechtskommission des Nationalrates hat die Parlamentarische Initiative Porchet knapp abgelehnt. Um den Zugang zur Abtreibung für die gesamte Bevölkerung ohne Diskriminierung oder Stigmatisierung zu gewährleisten empfehlen wir dem Nationalrat, entgegen der Kommissionsmehrheit die Parlamentarische Initiative 22.432 zu unterstützen. So kann das Recht auf Abtreibung in der Schweiz endlich vollständig anerkannt werden.
BUNDESGESETZ ÜBER DAS GESICHTSVERHÜLLUNGSVERBOT
STÄNDERAT - DIENSTAG, 07. MÄRZ 2023
22.065 / Geschäft des Bundesrates
Amnesty International hatte die Initiative für ein Burka-Verbot klar abgelehnt. Das Gesichtsverhüllungsverbot ist unnötige Symbolpolitik mit sehr realen Konsequenzen: Es befeuert die Islamophobie und stigmatisiert die muslimische Minderheit in der Schweiz. Anstatt Frauen, die eine Burka oder einen Nikab tragen, in ihren Emanzipationswünschen zu unterstützen, werden sie durch solche Gesetze diskriminiert und marginalisiert.
Amnesty begrüsst alle Schritte, welche diese negativen Konsequenzen reduzieren könnten, wie beispielsweise die Reduktion der vorgesehenen Bussen.
Betreffend dem angestrebten «Ausgleich zwischen dem Gesichtsverhüllungsverbot und den verfassungsmässig garantierten Grundrechten der Meinungs- und Versammlungsfreiheit» ist Amnesty aber besorgt, dass die vorgesehenen Ausnahmen weitere Probleme schaffen könnte. In der aktuellen Fassung würde diese Ausnahmen nur dann zum tragen kommen, wenn eine Versammlung vorgängig bewilligt wurde. Diese wäre insofern problematisch, weil die Voraussetzung einer Bewilligung zur Ausübung der Versammlungsfreiheit - unabhängig vom Anwendungfall - gegen internationale Menschenrechtsnormen verstösst.
AUSSENPOLITIK
AUSSENPOLITISCHER BERICHT 2022
NATIONALRAT - DIENSTAG, 14. MÄRZ 2023
23.009 / Geschäft des Bundesrates
In der Frühlingssession wird das Parlament den Aussenpolitischen Bericht 2022 des Bundesrates beraten. Neben weiteren Themen enthält der Bericht eine Übersicht menschenrechtlich relevanter Entwicklungen im bilateralen und multilateralen Bereich.
So enthält der Aussenpolitische Bericht Updates zu Menschenrechtsdialogen mit Brasilien, China, Iran, Indonesien, Mexiko, Nigeria, Russland und Südafrika. Bezüglich China fällt auf, dass in ungewöhnlicher Deutlichkeit auf die insgesamt unbefriedigenden Ergebnisse des Menschenrechtsdialogs hingewiesen wird, sowie festgehalten wird, dass eine Wiederaufnahme des Dialogs nicht mit Schweigen in multilateralen Gremien «erkauft» werden darf. Amnesty begrüsst dieses Bekenntnis zu mehr Kohärenz in der Menschenrechtsaussenpolitik.
Auch die Schweizer Arbeit in Gremien wie dem Uno-Menschenrechtsrat ist grundsätzlich positiv zu bewerten, wenn auch hier der Bericht auf die teils fehlende Kohärenz zwischen Innen- und Aussenpolitik hinweisen sollte. So hebt der Bundesrat hervor, dass sich die Schweiz für Resolutionen zu friedlichen Demonstrationen oder dem Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt engagiert hat, ohne dabei aufzuzeigen dass es im Inland bei beiden Themen Nachholbedarf gibt.
IRAN
UNTERSTÜTZUNG DER IRANISCHEN ZIVILGESELLSCHAFT
NATIONALRAT - DONNERSTAG, 09. MÄRZ 2023
22.4274 / Motion
Die Schweizer Reaktion auf die blutige Niederschlagung der Proteste im Iran wird gleich mehrmals thematisiert werden. Die Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte fordern mehr Massnahmen um «die iranische Zivilgesellschaft in ihrem Kampf für Frauen- und Menschenrechte zu unterstützen» (22.4274 und 22.4278). In einer ausführlichen Erklärung (23.020) nimmt APK-N zudem Bezug auf die auch von der Schweiz unterstützten Errichtung eines unabhängigen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus für den Iran durch den Uno-Menschenrechtsrats.
Meinungsäusserungsfreiheit und das Engagement gegen die Todesstrafe sind Schwerpunkte der Schweizer Leitlinien Menschenrechte 2021-2024. Damit hat die Schweiz eine Grundlage, sich dezidiert für die Menschenrechte der iranischen Zivilgesellschaft einzusetzen: Die iranische Regierung ging mit unerbittlicher Repression gegen Protestierende vor, die sich seit September für Frauen- und Menschenrechte einsetzten. Über 500 Personen, darunter Dutzende von Kindern wurden getötet, Tausende wurden verhaftet, Mindestens 14 Personen wurden in unfairen Verfahren zum Tod verurteilt, im Dezember 2022 und im Januar 2023 wurden vier junge Männer nach unfairen Verfahren hingerichtet.
Die Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen machen konkrete Empfehlungen, wie die diplomatische Schweiz vorgehen kann: Möglichkeiten sind zum Beispiel Prozessbeobachtungen, Gefängnisbesuche sowie diplomatische Demarchen. Die Schweiz sollte sich nicht nur hinter verschlossenen Türen für die Menschenrechte im Iran einsetzen, sondern auch konsequent öffentlich dafür einstehen.
ERKLÄRUNG DES NATIONALRATES. FÜR MENSCHENRECHTE UND DEMOKRATIE IM IRAN
NATIONALRAT - MONTAG, 27. FEBRUAR 2023
23.020 / Geschäft des Parlaments
Amnesty International begrüsst die Erklärung 23.020 der APK-N und ihr Engagement für die Menschenrechte im Iran, insbesondere auch die Würdigung der Resolution des UNO-Menschenrechtsrats, mit der eine unabhängige Untersuchungskommission eingerichtet wurde, die die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den am 16. September 2022 ausgebrochenen Protesten im Iran untersuchen wird. Die Untersuchungskommission hat den Auftrag, Beweise für Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und zu analysieren sowie im Hinblick auf etwaige Strafverfolgungsverfahren dauerhaft zu sichern.
Amnesty International hofft, dass die Einrichtung dieser Untersuchungskommission einen grundlegenden Wandel in der Herangehensweise der internationalen Gemeinschaft an die systematischen Straflosigkeit markiert, die seit langem Verbrechen gegen das Völkerrecht und andere schwere Menschenrechtsverletzungen im Iran begünstigt.
Dazu kann auch die Schweiz beitragen. Darüber hinaus kann sie Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen identifizieren, nach den Prinzipien der universellen Gerichtsbarkeit Strafuntersuchungen einleiten und Haftbefehle ausstellen.
ASYL/MIGRATION
PSYCHISCHE GESUNDHEIT VON ASYLSUCHENDEN. BERÜCKSICHTIGUNG DER SUIZIDGEFAHR UND PRÄVENTION
STÄNDERAT - MONTAG, 13. MÄRZ 2023
22.4593 / Interpellation
22.4593 strebt an, dass der Bundesrat und das SEM endlich wirksamere Massnahmen ergreifen, damit in der Begleitung von Asylsuchenden Fragen der psychischen Gesundheit und die Suizidgefahr besser einbezogen werden.
Amnesty International fordert, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung, insbesondere zu psychiatrischen Behandlungen, verbessert wird und auch in den Bundesasylzentren ein System für die Erkennung von Personen mit besonderen Bedürfnissen eingeführt wird. Ähnliche Forderungen stellt auch UNHCR: Asylsuchende mit besonderen Bedürfnissen sollten rascher identifiziert und unterstützt werden können.
Entsprechend würde es Amnesty International begrüssen, wenn der Bund in diesem Bereich schnell Fortschritte erzielte.
ZIVILGESELLSCHAFT
STRATEGISCHE GERICHTSVERFAHREN GEGEN DIE BETEILIGUNG DER ÖFFENTLICHKEIT IN DER SCHWEIZ. FÜR EINEN BESSEREN SCHUTZ DER MEDIENFREIHEIT
NATIONALRAT - MONTAG, 27. FEBRUAR 2023
22.429 / Parlamentarische Initiative
Die Parlamentarische Initiative 22.429 verlangt eine gesetzliche Grundlage, um in der Schweiz das Vorgehen bei strategischen Gerichtsverfahren gegen die Beteiligung der Öffentlichkeit (SLAPPs) besser zu regeln.
Im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA, Australien und Kanada gibt es in der Schweiz derzeit kein spezifisches Gesetz zur Verhinderung von solchen Klagen, und im Gegensatz zur EU oder dem Vereinigten Königreich sind keine entsprechenden Anstrengungen im Gange. SLAPPs stellen eine erhebliche Bedrohung für die freie Meinungsäusserung dar: Unternehmen greifen zunehmend auf Klagen (oder Prozesse) zurück, um Druck auf die investigative Arbeit von Journalisten und NGOs auszuüben, wenn diese über Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung berichten. Das Ziel dieser Art von offenkundig missbräuchlichen Klagen ist es, Journalist*innen und NGOs einzuschüchtern, sie sie bei ihrer investigativen Arbeit zu behindern und Kritik im öffentlichen Raum einzuschränken. Eine von HEKS im letzten Jahr durchgeführte Umfrage zeigte einen Anstieg dieser Art von Klagen oder Drohungen gegen NGOs in der Schweiz seit 2014.
Amnesty International empfiehlt die Parlamentarische Initiative 22.429 zur Annahme.
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