Auf der Suche nach Schutz und einem besseren Leben sind in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 mehr als 350‘000 Menschen in die EU gekommen. Mehr als 244‘000 Menschen trafen allein auf den griechischen Inseln ein, fast 90 Prozent kamen aus Kriegs- und Krisenregionen wie Syrien, Afghanistan und dem Irak.
Eine «Schutz»-Union
Wir stehen der schlimmsten globalen Flüchtlingskrise seit dem zweiten Weltkrieg gegenüber. Weltweit sind etwa 19,5 Millionen Menschen auf der Flucht, 80 Prozent wurden von Entwicklungsländern aufgenommen.
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich auf die Verschärfung der Grenzkontrollen, den Bau von Zäunen und das Anwerben von Nachbarstaaten als Grenzwächter konzentriert, statt einen fairen Anteil der Flüchtlinge aufzunehmen. Fast 2800 Menschen haben in diesem Jahr bereits auf der Suche nach Sicherheit in Europa ihr Leben verloren. Und wenn sie es bis nach Europa schaffen, ist ihr Elend nicht vorbei. Das hat Amnesty International in Griechenland, Ungarn und an vielen anderen Orten dokumentiert. Das muss ein Ende haben! Eine gemeinsam abgestimmte Reaktion auf die Notsituation von Flüchtlingen und eine radikale Erneuerung des scheiternden europäischen Asylsystems ist dringend notwendig.
Amnesty International fordert die Staats- und Regierungschefs der EU deshalb auf:
• Die EU muss sichere und legale Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge schaffen, um weitere Todesopfer zu verhindern: Die europäischen Länder müssen die Kontingente für die Neuansiedlung von Flüchtlingen in ihren Ländern deutlich erhöhen. Mit Hilfe von humanitären Visa und einer erleichterten Familienzusammenführung muss die Einreise erleichtert werden. Nur so kann die Zahl der Flüchtlinge reduziert werden, die auf der gefährlichen Reise nach Europa ihr Leben riskieren. Nur so kann der Druck auf Staaten an der EU-Aussengrenze verringert werden. Eine faire globale und europaweite Verteilung der Flüchtlinge könnte so gewährleistet und die Verdienstmöglichkeiten für Schlepper reduziert werden.
Amnesty International geht davon aus, dass in den nächsten beiden Jahren rund 1,38 Millionen Menschen neu angesiedelt oder aus humanitären Gründen aufgenommen werden müssen. Diese Zahl basiert auf der aktuellen Einschätzung der UNHCR. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten mindestens 300‘000 besonders verletzliche Flüchtlinge aufnehmen. Das könnte mithilfe von nationalen Programmen oder eines verpflichtenden EU-Programms umgesetzt werden.
• Die Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge an den EU-Aussengrenzen verbessern. Asylsuchenden muss es gestattet sein, offizielle Grenzposten zu passieren – unabhängig davon, ob sie gültige Reisedokumente besitzen oder nicht. Es muss dafür gesorgt werden, dass es eine ausreichende Zahl sicherer und sinnvoll gelegener Grenzübergänge gibt, die Flüchtlingen offen stehen.
• Der politische Druck auf die Staaten an der EU-Aussengrenze muss verringert werden: Es braucht ein Sofort-Programm zur Umsiedlung von Flüchtlingen und finanziellen Unterstützung der am meisten betroffenen Länder. Als Sofortmassnahme muss ein Notumsiedlungsprogramm greifen. Für eine nachhaltige Lösung sollten alle Empfehlungen dieser Agenda umgesetzt werden – einschliesslich der Öffnung sicherer und legaler Einreiserouten in die EU-Mitgliedsstaaten und eines gemeinsam abgestimmten Asyl-Systems, das Gleichberechtigung und -behandlung in der ganzen EU und Reisefreiheit für Flüchtlinge innerhalb der EU gewährleistet. Der Verteilschlüssel darf nur unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche betroffener Menschen erstellt werden, das Recht von Familien, zusammenbleiben zu können, muss beachtet werden.
• Ein sofortiges Ende der Menschenrechtsverletzungen an den EU-Aussengrenzen muss gewährleistet sein. Es darf keine Zurückweisungen (push-backs) mehr geben. Exzessive und unnötige Gewalt von Sicherheitskräften muss verhindert werden. Opfer von Misshandlungen müssen sofort Hilfeleistungen erhalten. Die EU-Mitgliedsstaaten müssen jeden Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen zeitnah, unab-hängig und sorgfältig untersuchen lassen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Die Europäische Kommission muss als Hüterin der Verträge Verstösse gegen EU-Recht ahnden.
• Die finanziellen, technischen und operativen Mittel müssen deutlich erhöht werden, um die EU-Staaten für die Aufnahme von Asylsuchenden und die Bearbeitung der Asylanträge auszustatten. Alle Asyl-, Migrations- und Zivilschutzorganisationen sollen unverzüglich mobilisiert werden, um die Erstaufnahmestellen bei der Aufnahme und Bearbeitung der Asylansprüche an wichtigen Einreiseorten zu unterstützen. Die Entwicklung von sogenannten «Hotspots» in Ländern mit einer EU-Aussengrenze muss – wie von der Europäischen Migrationsagenda vorgesehen – vorangetrieben werden. Sie sollen sicherstellen, dass alle Flüchtlinge den gleichen Zugang zu einem individuellen Asylverfahren bekommen und dieses effizient abgewickelt wird. Die Aufnahmebedingungen müssen für alle Asylsuchenden angemessen und menschenwürdig sein. Wenn die Rechte von Flüchtlinge von allen EU-Mitgliedsstaaten gleichermassen gewahrt werden, kommt es auch nicht zu so grossen Wanderbewegungen innerhalb der EU.
• Sicherstellung der Reisefreiheit für Flüchtlinge innerhalb der EU: Die EU-Gesetzgebung, die die Reisefreiheit der Asylberechtigten innerhalb der EU beschränkt, muss geändert werden. Das beinhaltet eine Korrektur der Daueraufenthaltsrichtlinie, sowie die Einführung eines Systems der gegenseitigen Anerkennung von positiven Bescheiden über den internationalen Schutzanspruch von Personen. Dies würde dazu beitragen, irreguläre Wanderbewegungen innerhalb der EU zu vermeiden und Familienzusammenführungen zu ermöglichen. Ausserdem würde die Aussicht auf Integration von Asylsuchenden verbessert und der politische Druck auf Staaten an den EU-Aussengrenzen verringert werden.
• Die Gewährleistung von gleichen Aufnahme- und Bearbeitungsstandards auf europäischer Ebene: Die sorgfältige Umsetzung der EU-Asylvorschriften muss durch die Europäische Kommission sichergestellt werden. Die Bearbeitung von Asylanträgen und die Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden durch EU-Mitgliedsstaaten muss mit internationalen Menschenrechtsverpflichtungen übereinstimmen. Irreguläre Wanderbewegungen innerhalb der EU können nur durch ein einheitliches Asylsystem verhindert werden: gleiche Standards bei der Aufnahme, der Gewährung von Asyl und der Integration.
• Keine Liste von «sicheren Herkunftsstaaten»: Die Genfer Flüchtlingskonvention sieht ein individuelles Prüfungsverfahren vor, das sicherstellt, dass jeder, der Anspruch auf Schutz hat, diesen auch erhält. Deshalb kann kein Herkunftsland generell als «sicher» eingestuft werden. Das Konzept einer Liste «sicherer Herkunftsstaaten» läuft dem Anspruch eines Asylsuchenden auf ein faires und effizientes Asylverfahren zuwider. Wenn Asylsuchende aus sogenannten «sicheren» Staaten kommen, werden sie häufig mit einer exzessiven Beweispflicht konfrontiert. Ganze Gruppen von Asylsuchenden können so von vorneherein um ihren Flüchtlingsstatus gebracht und schließlich ausgewiesen werden. Dies würde einer Diskriminierung von Asylsuchenden aufgrund ihrer Nationalität gleichkommen und bedeutet damit eine Verletzung von Artikel 3 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.
• Die Such- und Rettungsmission der EU auf den wichtigsten Migrationsrouten muss erhalten bleiben. Solange so viele Menschen versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs dafür sorgen, genügend Schiffe und Flugzeuge vor Libyen zu stationieren, um eine schnelle Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen und MigrantInnen zu gewährleisten. Einsätze, die dem Aufgreifen und Sicherstellen von Schlepperbooten dienen, sollen nicht aus dem gleichen Topf wie die Such- und Rettungsaktionen finanziert werden, es sollen auch keine Schiffe oder Flugzeuge dafür abgezogen werden. Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen sicherstellen, dass gerettete Menschen an einen sicheren Ort gebracht werden, an dem sie Zugang zu einem funktionierenden Asylsystem haben, das all jenen internationalen Schutz gewährt, die ihn brauchen.
• Die Ermutigung und Unterstützung von Transitstaaten bei der Umsetzung von menschenrechtskonformen asyl- und migrationspolitischen Massnahmen. Kooperationsvereinbarungen mit Drittstaaten zum Thema Migration sollen auf die Rechte und Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmt werden und deren Zugang zu internationalen Schutzeinrichtungen verbessern und nicht verschlechtern. Aufstockung der humanitären Hilfe in Regionen mit besonders vielen Flüchtlingen ausserhalb der EU: Die Uno verfügt momentan nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge aufrecht zu erhalten: dazu gehören Hilfeleistungen wie Nahrungsmittel, Unterkünfte, sowie Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Der Uno-Flüchtlingskommissar António Guterres hat in dieser Woche darauf hingewiesen, dass die globale humanitäre Gemeinschaft «pleite» sei. Dieser Mangel an finanziellen Mitteln hat ernste Auswirkung auf die Lebensumstände der Flüchtlinge im Nahen Osten und andernorts.