Frauenhaus in Dänemark. © Linda Horowitz
Frauenhaus in Dänemark. © Linda Horowitz

Vernehmlassung zur Istanbul-Konvention «Europäische Konvention zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt»

31. Januar 2016
Stellungnahme der Schweizer Sektion von Amnesty International zum Bundesbeschluss über die Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention).
1. Amnesty International begrüsst mit Nachdruck den Beitritt der Schweiz zur Istanbul-Konvention

Amnesty International hat sich auf internationaler Ebene stark für die Ausarbeitung dieses wichtigen Abkommens engagiert und setzt sich seither in allen Ländern für dessen rasche Ratifizierung ein. Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und insbesondere häuslicher Gewalt, die beide direkt oder indirekt auch Kinder betreffen, wie auch der Kampf gegen alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt auch gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersex sind seit Jahren ein zentrales Anliegen unserer weltweiten Organisation. Auch die Schweiz hat diesbezüglich noch immer Handlungsbedarf, trotz der inzwischen erfolgten breiteren Anerkennung dieser Problematiken. Das bestätigen unter anderem die jüngsten Empfehlungen des Uno-Ausschusses gegen Folter an die Schweiz vom 13. August 2015.

Die Istanbul-Konvention ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer weiteren Verbesserung der gesetzlichen Grundlagen und behördlichen Massnahmen wie auch zu einer verbesserten Unterstützung nichtstaatlicher Organisationen, Institutionen und Beratungsstellen, mit dem Ziel, Gewalt zu verhindern und zu bekämpfen, vor allem aber den von Gewalt Betroffenen den nötigen Schutz zukommen zu lassen. Dies muss unbedingt für Opfer jeglicher Herkunft gelten.

2. Ressourcen für Schutzunterkünfte und Beratung für Gewaltopfer, Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft

Die Istanbul-Konvention legt grosses Gewicht auf den Opferschutz und dabei namentlich auf die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Schutzunterkünften. Den diesbezüglichen Handlungsbedarf hat der von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) in Zusammenarbeit mit dem Eidg. Gleichstellungsbüro (EGB) in Auftrag gegeben Grundlagenbericht «IST- und Bedarfsanalyse Frauenhäuser Schweiz» vom Juni 2015 aufgezeigt. Auch fehlt es an der Finanzierung von spezialisierten stationären Angeboten und Schutzeinrichtungen, etwa für junge Frauen oder für Opfer von Frauenhandel. Allzu oft wird verkannt, wie viel Erfahrung, Professionalität und interkulturelles Wissen ein wirksamer Opferschutz voraussetzt – Fähigkeiten, die gerade private, zivilgesellschaftliche Institutionen in hohem Masse auf sich vereinen.

Als Organisation, die nicht selbst in der Opferhilfe tätig ist, jedoch in Kampagnen regelmässige mit Opferhilfestellen zusammenarbeitet, möchten wir auf die oft mangelhafte Finanzierung solcher Stellen hinweisen. Es scheint uns deshalb zwingend, im Zusammenhang mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention die bestehenden Beratungsstellen und Institutionen, namentlich die zivilgesellschaftlichen, weiter zu stärken und sie mit den nötigen Ressourcen auszustatten. Welches Mass an Schutz und Betreuung ein Opfer geniesst, darf zudem nicht einfach vom Kanton abhängen, in dem die Straftat begangen wurde oder in welchem sich das Opfer aufhält.

Dasselbe gilt für Massnahmen zur Prävention (Art. 12 Istanbul-Konvention): Auch hier gilt es, die Zivilgesellschaft konsequent sowohl finanziell wie strukturell in ihren Anstrengungen zu unterstützen und nicht nur die direkte Opferhilfe, sondern auch die Präventionsarbeit von Opferberatungsstellen abzugelten. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Opferhilfegesetzes (OHG) sieht eine solche Unterstützung nicht vor.

3. Schutz von ausländischen Opfern von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt – Migration und Asyl

Besonderen Handlungsbedarf sieht Amnesty International beim verbesserten Schutz für Opfer ohne Schweizer Pass. Gegenwärtig hängt der Opferschutz in vielerlei Hinsicht sehr stark vom rechtlichen Status einerseits und vom Ermessen kantonaler Behörden bei der Umsetzung des Ausländergesetzes (AuG) ab. Dies widerspricht dem Grundsatz der Gleichstellung und Nichtdiskriminierung in Bezug auf Opferrechte, wie ihn die Istanbul-Konvention ausdrücklich postuliert (Art. 4).

So werden in der Schweiz z.B. Ausländerinnen, die häusliche Gewalt erleiden, erst ab einem bestimmten Schweregrad der Übergriffe als Härtefälle betrachtet. Nur unter dieser Bedingung steht ihnen das Recht zu, sich ohne Verlust der Aufenthaltsbewilligung vom Täter zu trennen. Das kritisierte auch der Uno-Ausschuss gegen Folter in seinem jüngsten Bericht zur Schweiz vom August 2015.

Trotz Verbesserungen in einigen Kantonen sind nach wie vor auch Opfer von Frauenhandel nicht hinreichend vor einem Verlust ihres Aufenthaltsstatus geschützt, namentlich wenn sie nicht bereit sind, in einem Verfahren als Zeugin auszusagen, etwa aus Angst vor Repressalien.

Besonders schlecht geschützt sind Flüchtlingsfrauen, die sexuelle und andere Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt erlitten haben. Dass dies sehr häufig vorkommt, bestätigte soeben wieder ein neuer Bericht von Amnesty International vom Januar 2016. Fand die Tat im Herkunftsland oder auf der Flucht statt, haben die Betroffenen keinen Anspruch auf Leistungen der Opferhilfe. Auch asylsuchende Frauen, die Opfer von Frauenhandel wurden, haben gemäss einer 2015 erlassenen Weisung des Bundes keinen Zugang zu Opferrechten, solange sie sich im Asylverfahren befinden.

Eine spezifische Lücke besteht im Zusammenhang mit Zwangsverheiratungen: Personen, die aus der Schweiz in ein anderes Land zwangsverheiratet werden und dadurch ihre Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung verlieren, haben kein Rückkehrrecht und sind damit vom Opferschutz in unserem Land, in dem sie je nachdem ihre ganze Kindheit verbracht haben, ausgeschlossen.

Herkunft und Aufenthaltsstatus dürfen aber kein Kriterium sein, um Opfer von sexueller, häuslicher und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt vom ihnen zustehenden Schutz auszuschliessen.

Wir begrüssen deshalb, dass der Bundesrat sich bereit erklärt hat, die Praxis bei der Regelung des Aufenthaltsrechts von ausländischen Opfern häuslicher Gewalt zu überprüfen.

Amnesty International fordert die Schweiz dringend auf, im Sinne einer vorbehaltlosen und umfassenden Umsetzung der Istanbul-Konvention:

  • Keine Vorbehalte zu Art. 59 anzubringen und statt dessen mit einer Änderung der geltenden ausländerrechtlichen Bestimmungen die Voraussetzungen für die Umsetzung der Konvention im Sinne einer Gleichstellung aller Opfer zu schaffen
  • Gesetzliche Regelungen und behördliche Weisungen, welche den Opferschutz vom Aufenthaltsstatus abhängig machen, aufzuheben.
  • Einschränkende Regelungen wie diejenige, wonach der Opferschutz vom Schweregrad des Übergriffs abhängt, aufzuheben.
  • Mit Massnahmen zur Überwindung von sprachlichen, kulturellen und strukturellen Hürden beim Zugang zu Prävention und Opferschutz die Gleichstellung von Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen mit Schweizerinnen zu fördern.
4. Geschlechtsspezifische Gewalt als Fluchtgrund und geschlechtersensible Behandlung von Asylsuchenden

Mit Bezug auf Art. 60 der Istanbul-Konvention möchten wir ferner auf den nach wie vor bestehenden Handlungsbedarf hinweisen, was die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gewalt als Fluchtgrund und die Sensibilisierung für Gewalt an Frauen wie auch an LGBT im Asylwesen betrifft. Zwar wurde die Berücksichtigung von frauenspezifischen Fluchtgründen in Art. 3 Abs. 2 des Schweizerischen Asylgesetzes verankert, und es wurden beim Staatssekretariat für Migration (SEM) Massnahmen zur Schulung aller im Asylbereich tätigen Personen getroffen. Diese Massnahmen müssen aber weiter verbessert, auf weitere Akteure im Asylbereich ausgedehnt und namentlich auf die Sensibilisierung für die Situation von LGBT, sowohl in den Herkunftsländern wie als Asylsuchende, erweitert werden.

Um den Empfehlungen der Istanbul-Konvention nachzukommen, wären in diesem Bereich noch vermehrte Massnahmen zur Bildung und Sensibilisierung der Befragenden und Betreuenden wie auch eine systematische Erhebung und Berücksichtigung entsprechender Daten bei der Beurteilung der Lage in Herkunftsländern nötig.

5. Männer, Kinder, Transgender und Intersexuelle als Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt

Die Istanbul-Konvention (Art. 2) ermuntert die Vertragsstaaten, das Übereinkommen nicht nur auf Frauen, sondern auf alle Betroffenen von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt anzuwenden, also auch auf Männer und Kinder. Amnesty International begrüsst diesen Ansatz, erleiden doch auch Männer und Knaben geschlechtsspezifische Gewalt, etwa sexuelle Gewalt, Zwangsverheiratung oder «Ehrverbrechen».

Hinzuzufügen wäre die Notwendigkeit, Transmenschen und Intersexuelle in die Massnahmen mit einzubeziehen, die ebenfalls besonders von geschlechtsspezifischen Formen der Gewalt betroffen sind. Für diese Zielgruppen gibt es noch kaum Unterstützungs- und Beratungsangebote. Auch müsste in Erfüllung von Art. 39 Bst. b der Istanbul-Konvention (Zwangssterilisierung) die Praxis geändert werden, wonach von Transmenschen in vielen Fällen eine Sterilisierung zur Bedingung für eine Geschlechtsanpassung gemacht wird. Zu den Empfehlungen des Uno-Ausschusses gegen Folter vom August 2015 an die Schweiz gehörte zudem ein umfassender Schutz von Intersex-Kindern vor medizinisch ungerechtfertigten chirurgischen Eingriffen.

6. Bildung sowie Schulung und Weiterbildung von Angehörigen bestimmter Berufsgruppen

Zu den Forderungen von Amnesty International im Zusammenhang mit dem Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt gehört seit langem eine verbesserte, obligatorische Aus- und Weiterbildung bestimmter Berufsgruppen wie Polizei, Justiz- und Strafverfolgungsbehörden, Angestellte des Gesundheitswesens. Im Zusammenhang mit der besonderen Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingsfrauen wären auch Angehörige von Asyl- und Migrationsbehörden und Angehörige des Grenzschutzes, sowie Mitarbeitende von privaten Firmen, die im Auftrag des Staates Flüchtlinge betreuen, hinzuzufügen.

Im Sinne der Prävention befürwortet Amnesty International die Aufnahme von Unterrichtsthemen wie Gleichstellung, geschlechtsspezifische Gewalt, kulturelle Vorurteile und Erlernen von respektvollem Verhalten im Bildungsauftrag der Schule zu verankern. Amnesty fordert deshalb auch die Aufnahme von Menschenrechtsbildung in den Lehrplan 21.

7. Stellungnahme zu den vorgeschlagenen Vorbehalten

Zum Vorbehalt zu Art. 59: Amnesty schlägt vor, auf diesen Vorbehalt zu verzichten - vgl. oben unter Punkt 3, Schutz ausländischer Opfer.

Zum Vorbehalt zu Art. 44 Abs. 3:

Amnesty International regt an, auf diesen Vorbehalt zu verzichten. Analog zu den Regelungen bei der Zwangsheirat (Art. 181a StGB) und der Genitalverstümmelung (Art. 124 StGB) müsste die Schweiz die Strafbarkeit von sexueller Gewalt und Vergewaltigung (gemäss Art. Art. 36 Istanbul-Konvention) und von Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung (Art. 39 Istanbul-Konvention) ebenfalls auf Delikte ausdehnen, die im Ausland begangen worden sind. Es handelt sich um schwerwiegende Vergehen gegen die körperliche und psychische Integrität und gegen die sexuellen und reproduktiven Rechte. Die Begründung der Gerichtsbarkeit darf deshalb nicht davon abhängig gemacht werden, ob die Tat in der Schweiz oder im Ausland begangen wurde.

Was den Vorbehalt zu Art. 55 angeht, unterstützt Amnesty International die mit der Vorlage «Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen» laufenden Bemühungen, der heute verbreiteten Straflosigkeit von Tätern entgegenzuwirken. Namentlich begrüsst Amnesty die Neuregelung der Einstellungspraxis gemäss Art. 55a StGB. Zur genannten Vorlage nehmen wir nicht separat Stellung.