Belgrad, Anfang Januar 2017 © Amnesty International – Klicken aufs Bild für Bildgalerie.
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Serbien Belgrads vergessene Flüchtlingskinder

Februar 2017
Serbiens Sozial- und Asylbehörden bieten weder Hilfe noch Unterkunft oder Schutz an. Kinder auf der Flucht verbrennen Abfall, um sich ein bisschen zu wärmen.

In einem grossen, dunklen und verlassenen Lagerhaus in Belgrad drängen sich der 11-jährige Ahmed und vier andere Jungen in einer Ecke um ein kleines Feuer zusammen. Sie kochen Kartoffeln; eine karge Mahlzeit und wahrscheinlich das Einzige, was sie heute essen werden. Draussen liegt die schneebedeckte Stadt.

Trotz der Morgensonne, die durch die scheibenlosen Fenster scheint und durchscheinende Strahlenbündel in der von Rauch erfüllten Luft formt, ist es draussen minus zehn Grad Celsius kalt. Drinnen ist es nicht viel wärmer.

Die Jungen, sie sind alle aus Dschalalabad in Afghanistan, halten das Feuer mit allem am Brennen, was sie finden können – auch mit Plastikabfällen. Der beissende Rauch, der dabei entsteht, schmerzt in den Augen und brennt im Hals.

Die Jungen leben seit über zwei Monaten in diesem Lagerhaus hinter dem Belgrader Hauptbahnhof. Sie erzählten mir, dass sie von den serbischen Sozial- und Asylbehörden weder Hilfe noch eine Unterkunft oder Schutz angeboten bekommen haben.

Die Regierung hatte im vergangenen November tatsächlich NGOs und freiwillige Helferinnen und Helfer in offenen Briefen dazu aufgefordert, den Flüchtlingen sowie Migrantinnen und Migranten in der Haupt-stadt nicht mehr zu helfen. Bei mindestens einem Viertel der geschätzt 1‘200 Betroffenen in der Stadt handelt es sich um unbegleitete Minderjährige. Sie haben kaum oder keinen Zugang zu angemessenen sanitären Anlagen, zu fliessendem Wasser, medizinischer Versorgung oder warmer Kleidung.

Trotz des Aufrufs der Regierung widersetzt sich eine kleine Gruppe freiwilliger Helferinnen und Helfer der Polizei und besucht die über die Hauptstadt verstreuten Lagerhäuser und behelfsmässigen Lager. Sie versuchen die Erwachsenen, die in langen Schlangen im Schnee anstehen, mit einer Mahlzeit pro Tag zu versorgen. Ein in der Nähe gelegenes Familienzentrum gibt einige zusätzliche Mahlzeiten für Kinder aus. Ärzte ohne Grenzen kümmert sich hier um Verletzte und musste schon Menschen mit Erfrierungen, Hautinfektionen und Atemwegserkrankungen behandeln.

Die Behauptung der Regierung, sie habe die NGOs dazu aufgerufen, Flüchtlingen sowie Migrantinnen und Migranten nicht zu helfen, um diese dazu zu bewegen, in die offiziellen Lager zu kommen, ist verlogen. In den offiziellen Lagern gibt es nicht genug Platz. Ein Junge sagte mir, dass ihm der Zutritt zu Asylzentren wiederholt verweigert worden ist. «Mir wurde gesagt, es gäbe keinen Platz mehr. Ich versuchte es in Belgrad, in Šid und in Adaševci. Dann ging ich zur Polizeiwache, aber man konnte mir nicht helfen», erzählte er. «Ich habe nicht gedacht, dass es so schwierig sein würde. Diese Situation macht mich fertig, physisch und psychisch.»

Wenn sie merken, dass sie in Serbien nicht willkommen sind, versuchen viele Flüchtlinge anderswohin zu gehen. Jene, die ich traf, berichteten von schlimmen Erfahrungen mit Grenzwächtern in benachbarten EU-Staaten: Ungarn drängt Flüchtlinge, die versuchen seine Zäune zu passieren, zurück und kroatische Grenzwächter tun zunehmend dasselbe.

Mohammed, ein 13-jähriger Junge aus Kabul, erzählte mir, er sei sieben Mal an Kroatiens Grenze zurückgewiesen worden, und seine Freunde wurden aus Ungarn zurückgebracht. Die meisten dieser Menschen sind über Bulgarien gekommen. Dort erfrieren Flüchtlinge in der Kälte.

Nachdem jene EU-Mitgliedstaaten ihre Grenzen geschlossen haben, sitzen die Flüchtlinge dort fest – bei eisigen Temperaturen, die grosse Teile Europas fest im Griff haben.

«In Belgrad und überall in Europa wurden Kinder wie Ahmed einfach der Kälte ausgesetzt.»

Und auch der Empfang in Serbien ist frostig. Letztes Jahr beschränkte die serbische Regierung die Zahl der Asylsuchenden, die sie bereit ist aufzunehmen. Trotz der vielen Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten im Land wurden nur gerade 6‘000 Betten zur Verfügung gestellt.

Regierungsbeamte behaupten, dass die Flüchtlinge es vorziehen, obdachlos zu sein, und dass sie sich weigern, in die Asylzentren zu gehen. Flüchtlinge sowie Asylsuchende beschreiben die Umstände jedoch ganz anders und sprechen von zu wenig Plätzen, um alle unterzubringen. So sind sie in einem unmenschlichen, täglichen Kampf um Wärme und Essen gefangen.

Nach zahlreichen internationalen Medienberichten über die Flüchtlinge, die ohne Schutz der Kälte ausgesetzt sind, hat die serbische Regierung in den vergangenen Tagen die Wiedereröffnung einer vorübergehenden Aufnahmestelle im nahe gelegenen Obrenovac und den Transport von 250 Menschen dorthin angekündigt. Die Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR und andere Organisationen durften zusätzliche Hilfe leisten. Aber das reicht nicht.

In diesen unsicheren Zeiten ist kaum etwas sicherer als der Wechsel der Jahreszeiten. Trotzdem scheint der Winter die serbischen Behörden und die europäischen Regierungen in Bezug auf die Flüchtlingskrise überrascht zu haben. In Belgrad und überall in Europa wurden Kinder wie Ahmed regelrecht der Kälte überlassen.

Todor Gardos ist Serbien-Researcher von Amnesty International. Ahmed und Mohammed sind geänderte Namen.