Spanien Verurteilung von Jordi Sànchez und Jordi Cuixart bedroht Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit

Medienmitteilung 19. November 2019, London/Madrid/Barcelona/Bern – Medienkontakt
Der Schuldspruch gegen Jordi Sànchez und Jordi Cuixart wegen Aufruhr verstösst gegen ihre Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung. Sie müssen umgehend freigelassen werden, sagte Amnesty International heute nach der Veröffentlichung der Urteilsbegründung durch den Obersten Gerichtshof Spaniens.

Die Gefängnisstrafen gegen die beiden zivilgesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten und sieben weitere hohe katalanische Regierungsvertreterinnen und -vertreter stützen sich auf die vage Definition der Straftat Aufruhr in Spaniens Strafgesetzbuch und die zu breite und damit gefährliche Interpretation dieser Definition durch den Obersten Gerichtshof.

«Jordi Sànchez und Jordi Cuixart müssen unverzüglich freigelassen und ihr Schuldspruch wegen Aufruhr muss aufgehoben werden», sagte Daniel Joloy, Politikberater bei Amnesty International.

«Die Auslegung der Straftat Aufruhr durch den Obersten Gerichtshof war eindeutig zu weit.» Daniel Joloy, Politikberater bei Amnesty International.

«Unsere Analyse hat keine Anzeichen für ein unfaires Gerichtsverfahren ans Licht gebracht, doch die Auslegung der Straftat Aufruhr durch den Obersten Gerichtshof war eindeutig zu weit und hat zu einer Kriminalisierung legitimer Protestveranstaltungen geführt.

Als Privatbürger und Leiter zivilgesellschaftlicher Organisationen hatten Jordi Sànchez und Jordi Cuixart das Recht, ihre Meinung zu äussern und friedliche Treffen zu organisieren, um das Referendum und die Unabhängigkeit Kataloniens zu unterstützen.

Selbst wenn es der Zweck eines dieser Treffen oder ihrer Aktivitäten war, der Durchsetzung eines gerichtlichen Beschlusses zu verhindern, so ist doch festzuhalten, dass auch ziviler Ungehorsam durch die internationalen Menschenrechtsnormen geschützt wird. Einen Akt zivilen Ungehorsams mit zu schweren Anklagen strafrechtlich zu verfolgen, schränkt das Recht auf friedliche Versammlung unzulässig ein und verstösst gegen das Völkerrecht.

Parlament muss Straftatbestand überarbeiten

Nach Begleitung des gesamten Strafverfahrens kommt Amnesty International zu dem Schluss, dass eine Verurteilung von Jordi Sànchez und Jordi Cuixart zu neun Jahren Haft wegen Aufruhr eine unverhältnismässige Einschränkung ihrer Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung darstellt. Die Organisation stellt darüber hinaus fest, dass es dem Obersten Gerichtshof nicht gelungen ist nachzuweisen, dass die Auferlegung solch harter Strafen im Verhältnis zu den friedlichen Aktivitäten steht, derer die Angeklagten bezichtigt wurden.

Dem Obersten Gerichtshof ist es nicht gelungen nachzuweisen, dass die Auferlegung solch harter Strafen im Verhältnis zu den friedlichen Aktivitäten steht, derer die Angeklagten bezichtigt wurden.

«Die Verurteilung von Jordi Sànchez und Jordi Cuixart ist eine eindeutig übertriebene und unverhältnismässige Einschränkung ihrer Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung», so Esteban Beltrán, Direktor von Amnesty-Spanien.

«Das spanische Parlament muss die Definition der Straftat Aufruhr dringend überarbeiten, um zu verhindern, dass friedlicher ziviler Ungehorsam kriminalisiert wird oder friedliche Versammlungen und Meinungsäusserungen unzulässig eingeschränkt werden.»

Amnesty International ist darüber hinaus besorgt, dass das Gericht die Schwere der Tat mit der 'massiven oder generellen' Opposition zur Durchsetzung eines Gerichtsbeschlusses in Verbindung bringt. Damit hat das Gericht den Behörden die Möglichkeit eröffnet, eine rechtswidrige Höchstgrenze festzulegen, wie viele Menschen gleichzeitig friedlich ihr Recht auf Protest ausüben können.

Die unklare gesetzliche Definition der Straftat Aufruhr und die Auslegung des Gerichts gestatten also die Auferlegung rechtswidriger Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäusserung und friedliche Versammlung. In der Folge werden eine ganze Reihe von gewaltlosen direkten Aktionen fälschlicherweise kriminalisiert.

Die vage Definition von Aufruhr und die zu breite Auslegung des Begriffs stellen auch die Schuldsprüche wegen Aufruhr gegen die katalanischen Politikerinnen und Politiker in Frage.

«Die katalanischen Politikerinnen und Politiker können zwar eine Straftat begangen haben, die in Anbetracht ihrer offiziellen Ämter eine Strafverfolgung nach sich ziehen kann, doch ihre Verurteilung wegen Aufruhr – ein zu vage definierter Straftatbestand – verstösst gegen das Legalitätsprinzip. Die spanischen Behörden müssen dringend eine angemessene Lösung für diese Situation finden», urteilt Adriana Ribas, die Amnesty-Koordinatorin in Katalonien.

«Jede Person hat das Recht zu wissen, ob das eigene Verhalten eine Straftat darstellen kann.» Doch dieses Urteil zeigt, dass die vage Definition von Aufruhr, dazu führen kann, dass dieser Straftatbestand unverhältnismässig herangezogen wird. Die Auslegung der Straftat durch den Obersten Gerichtshof könnte zur Folge haben, dass sich Menschen nicht mehr ohne Angst an friedlichen Protesten beteiligen.»

Hintergrund

Amnesty International hat die Strafverfahren gegen die zwölf katalanischen Führungspersönlichkeiten im Zusammenhang mit den Ereignissen in Katalonien um das Referendum vom 1. Oktober 2017 herum, beobachtet und an allen Verhandlungstagen in Madrid teilgenommen.

Die Urteile ergingen am 14. Oktober 2019. Sieben katalanische Regierungsmitglieder und zwei Leiter zivilgesellschaftlicher Organisationen wurden wegen Aufruhr zu Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren Gefängnis und einem Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter verurteilt. Zwei weitere hohe Politiker und eine Politikerin wurden wegen Ungehorsams zu einer Geldstrafe und dem Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter verurteilt.

Internationale Menschenrechtsnormen geben vor, dass Einschränkungen des Rechts auf friedliche Versammlung vom Gesetz abgedeckt und notwendig sein und im Verhältnis zu einem konkreten öffentlichen Interesse stehen müssen. Eine Demonstration verliert ihren friedlichen Charakter nicht dadurch, dass Rechtswidrigkeiten begangen werden oder weil einige Protestierende Gewalt einsetzen.

Da friedliches Verhalten bei der Durchführung einer Protestveranstaltung bestimmten Einschränkungen unterliegen kann, müssen diese im Gesetz genau dargelegt werden.  Jeder Straftatbestand muss im Gesetz ausreichend klar definiert sein, um das eigene Verhalten dementsprechend regulieren zu können.