Amnesty International hat glaubwürdige Informationen erhalten, denen zufolge die Türkei mit der Abschiebung der 30 Afghanen sowohl gegen europäische Bestimmungen als auch gegen das Völkerrecht verstossen hat. Denn die Betroffenen haben keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhalten und sie wurden nach Kabul abgeschoben, obwohl ihnen dort Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban drohen. Dies zeigt, dass die Umsetzung des Abkommens unmittelbar das Leben von Flüchtlingen gefährdet.
«Die Tinte der Unterschriften unter dem EU-Türkei-Deal war noch nicht ganz getrocknet, als mehrere Dutzend afghanische Asylsuchende gezwungen wurden, in ein Land zurückzukehren, in dem sie sich in Lebensgefahr befinden könnten.»
John Dalhuisen, Leiter des Europa- und Zentralasien-Programms bei Amnesty International
«Die Tinte der Unterschriften unter dem EU-Türkei-Deal war noch nicht ganz getrocknet, als mehrere Dutzend afghanische Asylsuchende gezwungen wurden, in ein Land zurückzukehren, in dem sie sich in Lebensgefahr befinden könnten. Dies ist der jüngste Beweis für die Gefahren, die mit der Rückführung von Asylsuchenden in die Türkei einhergehen. Der Vorfall zeigt, welche Folgen das Abkommen wahrscheinlich für Geflüchtete haben wird, die durch die Türkei reisen», sagte John Dalhuisen, der bei Amnesty International für Europa und Zentralasien zuständig ist.
Anruf aus dem Flugzeug
Am vergangenen Freitag, dem 18. März 2016, um 23.40 Uhr, also nur einige Stunden nachdem die Regierungschefs der EU und der Türkei das Abkommen in Brüssel unterschrieben hatten, ging bei Amnesty International ein Anruf ein. Der afghanische Asylsuchende H. R. (zum Schutz des Betroffenen verwenden wir nicht seine echten Initialen) erklärte völlig verängstigt, dass er sich in einem Flugzeug nach Istanbul befinde. Etwa eine Stunde später, bei einem Zwischenstopp in Ankara, rief er erneut an und sagte, dass man ihn und etwa 30 weitere afghanische Männer, Frauen und Kinder nach Kabul abschiebe. Ihre Anträge, zum Asylverfahren in der Türkei zugelassen zu werden, waren zuvor abgelehnt worden.
H. R. sagte, dass er zu einer Gruppe gehöre, die versucht habe, über den Seeweg Griechenland zu erreichen. Sie wurden von der türkischen Küstenwache abgefangen und anschliessend in der Küstenstadt İzmir im Westen der Türkei inhaftiert. Nach fünf Tagen in Haft zwang man ihn dazu, seinen Daumenabdruck unter ein Dokument zu setzen, mit dem er einer freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan «zustimmte». Man händigte ihm keine Kopie des Schreibens aus. H. R. sagte Amnesty International am Telefon: «Wir wollen nicht zurückgehen, weil wir in Afghanistan in Gefahr sind. Wenn wir zurückgehen, werden uns die Taliban töten.»
Kontakt abgebrochen
Der Flug von Ankara nach Kabul startete am Samstag, dem 19. März, um 1.30 Uhr. Amnesty International hat Fotos von H. R.s Bordkarte und den Reisedokumenten gesehen, die von den afghanischen Behörden in der Türkei ausgestellt worden waren. Der daraus ersichtliche Grund für seine Ausschaffung war die «unerlaubte Einreise [in die Türkei]». Am 19. März um die Mittagszeit, als er sich bereits in Kabul befand, antwortete H. R. noch auf Nachrichten. Später war er jedoch nicht mehr zu erreichen und sein Mobiltelefon war offenbar ausgeschaltet.
Als Amnesty International bei der türkischen Generaldirektion für Migrationsverwaltung um Auskunft bezüglich der Ausschaffungen bat, wurde zwar die Ausweisung von 27 afghanischen Staatsangehörigen eingeräumt. Gleichzeitig erklärte die Behörde, dass alle Betroffenen freiwillig zurückgekehrt seien und keiner von ihnen einen Asylantrag in der Türkei gestellt habe.
Erzwungene «freiwillige Rückkehr»
Die von H. R. geschilderten Vorfälle entsprechen den Ausschaffungen und anderen Menschenrechtsverstössen, die Amnesty International bereits im Dezember 2015 in einem Bericht dokumentiert hat. Aus dem Bericht ging hervor, dass Flüchtlinge und Asylsuchende an der westlichen Grenze aufgegriffen und ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand inhaftiert wurden. Sie wurden gezwungen, Dokumente zu unterschreiben, mit denen sie einer «freiwilligen Rückkehr» zustimmten, daraufhin wurden sie nach Syrien oder in den Irak ausgeschafft. Die Europäische Kommission gab damals an, sich mit dieser «ernsten Angelegenheit weiter befassen» zu wollen. Sie hat die von Amnesty International dokumentierten Menschenrechtsverletzungen jedoch nach wie vor nicht offiziell anerkannt.
In den vergangenen Monaten sind immer mehr Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Griechenland abgefangen und in das von der EU finanzierte Ausschaffungslager in Erzurum im Osten der Türkei gebracht worden. Von dort wurden sie ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand oder Asylverfahren in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Solange das Abkommen der EU mit der Türkei weder menschenrechtliche Garantien noch eine unabhängige Kontrolle festschreibt, können sich solche Verstösse jederzeit wiederholen.
«Menschen dürfen nicht unter der Vorgabe in die Türkei zurückgeschafft werden, dass die Türkei ein sicheres Land für Flüchtlinge ist. Die EU sollte einen unabhängigen Resettlement-Plan beschliessen und mit dem Partnerland Türkei zusammenarbeiten, um Verstössen gegen die Rechte von Flüchtlingen einen Riegel vorzuschieben», so John Dalhuisen.