Türkei Gefangene nach Putschversuch gefoltert

24. Juli 2016, aktualisiert am 4. August 2016
Amnesty International liegen glaubwürdige Beweise vor, dass Gefangene in offiziellen und inoffiziellen Hafteinrichtungen in der Türkei gefoltert werden. Es gibt Berichte über schwere Misshandlungen und Vergewaltigungen. Amnesty fordert, dass unabhängige Beobachterinnen und Beobachter sofort Zugang zu allen Hafteinrichtungen erhalten.

Die türkischen Behörden müssen die Verantwortlichen des Militärputsches, die Menschen getötet und Menschenrechte verletzt haben, vor Gericht stellen. Dabei müssen aber die Prinzipien eines fairen Gerichtsverfahrens garantiert und das absolute Folterverbot eingehalten werden.

Seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 sind in der Türkei mehr als 19‘000 Personen verhaftet worden. Sie befinden sich in Gefängnissen, aber auch in Polizeizentralen, Gerichtsgebäuden und Sportstätten. Amnesty International hat glaubwürdige Berichte erhalten, wonach die türkische Polizei in Ankara und Istanbul Gefangene dazu zwingt, über 48 Stunden lang in anstrengenden Positionen auszuharren. Wasser, Nahrung und medizinische Hilfe wird ihnen verweigert. Zudem wurden Gefangene brutal geschlagen, gefoltert und einige sogar vergewaltigt.

«Die Berichte über Misshandlungen wie Schläge und Vergewaltigungen in Haft sind äusserst besorgniserregend, insbesondere angesichts der hohen Zahl der Verhaftungen in der vergangenen Woche. Die grauenvollen Details, die wir dokumentiert haben, sind nur ein Ausschnitt dessen, was möglicherweise gerade in vielen Hafteinrichtungen in der Türkei passiert», so John Dalhuisen, Direktor für Europa und Zentralasien von Amnesty International. «Die türkischen Behörden müssen diese abscheulichen Praktiken sofort beenden und internationalen Beobachtern Zugang zu allen Hafteinrichtungen gewähren.»

«Die türkischen Behörden müssen diese abscheulichen Praktiken sofort beenden und internationalen Beobachtern Zugang zu allen Hafteinrichtungen gewähren.»

Inhaftierte werden willkürlich festgehalten, auch in informellen Hafteinrichtungen. Sie dürfen weder eine Anwältin noch ihre Familienmitglieder informieren und sie wurden nicht über die ihnen zur Last gelegten Verbrechen informiert. Dieses Vorgehen widerspricht den Prinzipien eines fairen Gerichtsverfahrens.

Am Samstag hat die türkische Regierung das erste Dekret seit Inkrafttretens des Ausnahmezustandes erlassen. Danach können Gefangene ohne richterlichen Beschluss neu bis zu 30 Tage lang festgehalten werden. Diese Verlängerung der Haft setzt die Gefangenen noch länger der Gefahr aus, gefoltert zu werden. Das Dekret ermöglicht es den Behörden auch, Gespräche zwischen Inhaftierten und ihren Anwälten zu beobachten oder aufzuzeichnen. Ausserdem ist die Auswahl an Rechtsvertreterinnen deutlich eingeschränkt worden. Auch das widerspricht den Grundprinzipien eines fairen Gerichtsverfahrens.

Folter und andere Misshandlungen

Amnesty International hat mit Anwälten, Ärztinnen und Verantwortlichen in den Gefängnissen über die Haftbedingungen gesprochen. Die Menschenrechtsorganisation hat auch eine Vielzahl von Aussagen der Menschen dokumentiert, die in inoffiziellen Haftzentren wie Sportanlagen und Ställen eingesperrt sind. Einige Gefangene, darunter mindestens drei Richter, werden in den Fluren von Gerichtsgebäuden festgehalten.

Alle Befragten wollten aus Sicherheitsgründen anonym bleiben. Amnesty hat alarmierende Beschreibungen von Folter und Misshandlungen aufgezeichnet, vor allem in der Sporthalle des Polizeihauptquartiers von Ankara, in der Baskent Sporthalle und in den angeschlossenen Reitställen.

So schildert beispielsweise einer der Aufseher im Polizeihauptquartier in Ankara, wie ein Gefangener geschlagen wurde und schwere Kopfverletzungen davontrug. Der Mann konnte weder aufstehen noch fokussieren und wurde schliesslich ohnmächtig. Während manchen Häftlingen minimale medizinische Versorgung zugestanden wurde, erhielt dieser Mann trotz der Schwere seiner Verletzungen keinerlei medizinische Hilfe. Der Zeuge zitierte einen diensthabenden Polizeiarzt mit den Worten: «Lass ihn verrecken. Wir sagen einfach, er wurde schon tot eingeliefert.»

Der gleiche Zeuge berichtete, dass 650 bis 800 männliche Soldaten in der Sporthalle des Polizeihauptquartiers in Ankara festgehalten werden. Mindestens 300 von ihnen wiesen aufgrund von Schlägen und Tritten Verletzungen auf. Einige der Gefangenen hatten Platzwunden, Schnitte oder gebrochene Knochen. 40 waren so schwer verletzt, dass sie nicht mehr gehen konnten, zwei konnten nicht einmal mehr stehen. Eine Frau, die auch verhaftet worden und in einer anderen Hafteinrichtung gebracht worden war, hatte Hämatome im Gesicht und am Oberkörper. Der Zeuge hörte, dass Polizisten sagten, dass sie die Gefangenen schlagen und misshandeln würden, um sie «zum Reden zu bringen».

Der Zeuge hörte, dass Polizisten sagten, dass sie die Gefangenen schlagen und misshandeln würden, um sie «zum Reden zu bringen».

Generell scheint es, dass hochrangige Militärs am schlimmsten gefoltert und misshandelt wurden. Anwältinnen und Anwälte berichten, dass Menschen in blutverschmierten Hemden zu Verhören der Staatsanwaltschaft gebracht wurden. Eine Anwältin, die im Caglayan Gericht in Istanbul arbeitet, berichtete, dass einige der Inhaftierten psychisch völlig am Ende waren. Einer versuchte sogar, sich aus einem Fenster im sechsten Stockwerk zu stürzen. Andere hämmerten mit ihrem Kopf immer wieder gegen die Wand.

«Obwohl die Bilder und Aufnahmen von gefolterten Menschen im ganzen Land ausgestrahlt worden sind, hat sich die Regierung dazu noch nicht geäussert. Sie hat die Misshandlungen nicht verurteilt. Dieses Schweigen kommt einer Billigung der Folter gleich», sagt John Dalhuisen.

Amnesty fordert unabhängige Beobachter

Amnesty International fordert das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter eindringlich auf, eine Notfall-Mission in der Türkei durchzuführen und die Haftbedingungen zu untersuchen. Als Mitglied des Europarates ist die Türkei verpflichtet, mit diesem Komitee zusammen zu arbeiten. Es ist das einzige unabhängige Gremium, das ermächtigt ist, Ad-hoc Besuche in allen Haftanstalten der Türkei durchzuführen.

Die Nationale Menschenrechtsinstitution der Türkei, die auch Zugang zu Gefängnissen hatte, um die Haftbedingungen zu überwachen, ist im April 2016 aufgelöst worden. Seitdem gibt es in dem Land keine unabhängige Überwachungsinstanz für die Zustände in den Gefängnissen. In der gegenwärtigen Situation, in der tausende Gefangene ohne Kontakt zur Aussenwelt auf unbestimmte Dauer in informellen Haftanlagen festgehalten werden und sich die Foltervorwürfe häufen, ist es dringend notwendig, dass unabhängige Beobachter und Beobachterinnen Zugang erhalten.

«Amnesty International fordert die türkische Regierung auf, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Die Behörden dürfen die zusätzlichen Vollmachten unter dem Ausnahmezustand nicht dazu nutzen, die Rechte von Inhaftierten mit Füssen zu treten», sagt John Dalhuisen. «Das Folterverbot ist absolut und kann weder eingeschränkt noch ausgesetzt werden».

«Das Folterverbot ist absolut und kann weder eingeschränkt noch ausgesetzt werden».

Amnesty International fordert die türkischen Behörden auf, Folter und Misshandlung von Gefangenen zu verurteilen und konkrete Schritte einzuleiten, um dagegen vorzugehen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Behörden müssen sicherstellen, dass die Anwaltskammer und Familienmitglieder bei Verhaftungen unverzüglich verständigt werden, und dass Anwältinnen und Anwälte in allen Stadien des Verfahrens Zugang zu ihren Klienten haben.