© Amnesty International
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Türkei 10 Menschen, 100 Tage, 10 absurde Gründe

16. Oktober 2017. Von Stefan Simanowitz, Medienbeauftragter für Amnesty Europa. Diese Artikel erschien zuerst bei EuroNews.
Nach fast 100 Tagen Haft hat die Staatsanwaltschaft Klage gegen die Direktorin von Amnesty Türkei, Idil Eser, und die anderen Mitglieder der Gruppe eingereicht, die an einem Workshop in der Nähe von Istanbul teilgenommen hatten. Die Anschuldigungen und Gründe für ihre Inhaftierung könnten absurder nicht sein.

Am 5. Juli stürmten türkische Sicherheitskräfte einen Trainingsworkshop zum Thema Menschenrechte und nahmen zehn bekannte AktivistInnen fest, darunter die Direktorin der türkischen Ländersektion von Amnesty International sowie zwei Trainer aus Deutschland und Schweden. Der Grossteil der Gruppe – auch bekannt als die Istanbul 10 – sitzt seither in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis hinter Gittern.

Nach rund 100 Tagen Haft reichte die Staatsanwaltschaft die Anklage. Sie verlangt für die AktivistInnen wegen mutmasslicher Terror-Unterstützung bis zu 15 Jahre Haft. Die Anschuldigungen und Gründe für ihre fortgesetzte Inhaftierung könnten absurder nicht sein.

Ein «geheimes Treffen»

Die türkische Staatsanwaltschaft versucht das Treffen als eine undurchsichtige Verabredung von Verschwörern darzustellen, die planten, «Chaos in der Gesellschaft» anzurichten, was jedoch absolut nicht der Wahrheit entspricht:

  1. Es handelte sich nicht um ein geheimes Treffen. Zahlreiche Mitglieder anderer Organisationen waren eingeladen.

  2. Das Treffen wurde in einem verglasten Gebäude abgehalten; die TeilnehmerInnen waren somit von aussen sichtbar. Ausserdem stand laut Polizeibericht die Tür des Zimmers, in dem sich die TeilnehmerInnen aufhielten, weit offen: «Wir gingen ins Hotel und zum Besprechungszimmer im oberen Stockwerk. Die Tür stand offen, Menschen sassen in einem Kreis.»
  1. Einer der Trainer, die an dem Treffen teilnahmen, Peter Steudtner, hatte im deutschen Registrationssystem für Auslandsreisen angegeben, wohin er fahren würde und was er in der Türkei vorhatte. Die türkische Staatsanwaltschaft wertet diese Informationen jedoch als Beweis für eine Verwicklung der deutschen Regierung in die angebliche Verschwörung.

  2. Eine der Teilnehmerinnen, Nalan Erkem, postete ein Foto des Hotels auf ihrem Instagram-Profil und kündigte öffentlich an, wo sie sich aufhielt. «Wo übernachtest du?», fragte darunter eine Freundin. «Im Hotel Ascot», antwortete Nalan.

Der Instagramm-Beweis

Irgendein Dolmetscher aus dem Internet

Für die Besprechung terroristischer Pläne hätte man wohl sinnvollerweise einen vertrauenswürdigen, bereits bekannten Dolmetscher herangezogen. Doch...

  1. Die Gruppe hatte ihre Dolmetscher auf einer Website zur Vermittlung von Dolmetschern gefunden und diese zuvor nie gesehen.

Es war einer dieser Dolmetscher, der der Polizei einen Tipp gab und ihr berichtete: «Einige der Gespräche, die ich höre, drehen sich um Handys, die an der Polizei vorbeigeschmuggelt werden sollen und wie Informationen auf diesen Geräten gespeichert werden und verschlüsselt werden. Sie waren sehr besorgt und stellten Fragen dazu, sowohl die die ausländischen als auch die türkischsprachigen Teilnehmenden.»

Wenn die Razzia auf so einer Aussage gründete, dann handelte es sich mit Sicherheit nicht um eine sorgfältig geplante Polizeioperation, um eine Verschwörung aufzudecken.

Skizzierte Beweisgrundlage
  1. Die Skizze einer Karte, die von der Polizei am Besprechungstisch gefunden wurde, dient als eines der wichtigsten Beweismittel gegen die Festgenommenen.

Als Einstiegsaufgabe in den Workshop hatte der Trainer Peter Steudtner die TeilnehmerInnen gebeten, etwas zu zeichnen, das bei ihnen Stress auslöst. Seyhmus Özbekli, der an Klaustrophobie leidet, zeichnete einen Lift; Ilknur Üstün, eine begeisterte Squashspielerin zeichnete Bälle, die auf sie zufliegen. Özlem Dalkıran malte eine Landkarte der Türkei, in welcher sie den Krieg im Südosten symbolisch einzeichnete, dazu Gefangene in Istanbul, Flüchtlinge aus dem Krieg im Irak und Syrien, sowie Wasserkraftwerke im Schwarzen Meer.

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  1. Özlems schlechte Skizze der Türkei ist nicht die einzige Landkarte, die als Beweismittel dient.

Eine weitere Landkarte, die auf Ali Gharavis Computer gefunden wurde, wird ebenfalls als belastendes Beweismittel eingesetzt – obwohl es sich dabei schlicht und einfach um eine wissenschaftliche Darstellung der Sprachgruppen in der Türkei, im Irak und Iran handelt. Die Karte ist einfach online verfügbar und dient Bildungszwecken.

Eine Bildungslandkarte als Beweis

«Wenn das eine Straftat ist... werden wir sie auch in Zukunft begehen.»
  1. Die Anklage gegen Idil Eser umfasst Anschuldigungen, dass Amnesty International einen Brief an die Botschaft Südkoreas in der Türkei versendet habe, in dem sie nach den Protesten im Gezi Park um einen Lieferstopp von Tränengaskanistern an die Türkei ersuchte. Solche Schreiben sind Teil des Arbeitsalltags von Amnesty International; ausserdem wurde der Brief versendet, bevor Idil der Organisation überhaupt beigetreten war.
  1. Die Frauenrechtsaktivistin Ilknur Üstün wird beschuldigt, «bei einer Botschaft» um finanzielle Unterstützung für ein Projekt zur «Geschlechtergleichberechtigung, Partizipation in der Politik und in der Berichterstattung» angefragt zu haben. Über ihre Tätigkeit schreibt sie aus dem Gefängnis: «Wenn das ein eine Straftat ist... werden wir sie auch in Zukunft begehen.»
  1. Die wohl untypischste «terroristische» Gruppierung, die es je gab...

Niemand dieser MenschenrechtsaktivistInnen hat zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung aufgerufen.

Der schwedische Trainer Ali Gharavi stellte sich anderen Menschen häufig mit den folgenden Worten vor: «Ich heisse Ali, wie der Boxer Muhammad Ali, aber ohne die Gewalt» – es wäre wohl schwer, eine gewaltlosere Gruppe von Menschen zu finden. Peter Steudtner setzt sich schon sein ganzes Leben lang für friedliche und gewaltfreie Konfliktlösung ein, indem er den Menschen das «Do no harm»-Prinzip näherbringt. In einem Brief, den er aus dem Gefängnis schickte, schrieb er: «Es ist mir wichtig, dass die politische und rechtliche Verantwortung für unsere Situation nicht auf die Türkei als Land oder auf ihre Bevölkerung geschoben wird... Gehen wir den gewaltfreien Weg der Menschenrechte gemeinsam!»

Idil Eser hat für viele zivilgesellschaftliche Organisationen gearbeitet, einschliesslich der Helsinki Citizens’ Assembly und Ärzte ohne Grenzen. Als 2011 Erdbeben die Osttürkei erschüttert hatten, flog sie nach Van und bot ihre Hilfe an.

Günal Kursun ist Wissenschaftler und Anwalt. Im Gefängnis schrieb er zehn Geschichten für seinen 2-jährigen Sohn.