Das oberste türkische Berufungsgericht hat am 22. November 2022 die Urteile gegen Taner Kılıç, den Ehrenpräsidenten der türkischen Amnesty-Sektion, İdil Eser, die frühere Amnesty-Direktorin, sowie die beiden langjährigen Amnesty-Mitglieder Günal Kurşun und Özlem Dalkıran aufgehoben. Das Kassationsgericht entschied damit über den Rekurs der vier Menschenrechtsverteidiger*innen gegen ihre Verurteilungen zu Haftstrafen aufgrund haltloser «Terrorismus»-Vorwürfe.
«Die Annulation der Urteile gegen führende Amnesty-Vertreter*innen war überfällig. Sie hätten gar nie angeklagt werden dürfen.» Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz
Amnesty International begrüsst das Urteil. Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty International Schweiz sagt: «Die Annulation der Urteile gegen führende Amnesty-Vertreter*innen war überfällig. Unsere Kolleg*innen werden seit fünf Jahren für ihre legitime und wichtige Menschenrechtsarbeit verfolgt. Sie hätten gar nie angeklagt werden dürfen. Die Vorwürfe gegen sie sind konstruiert und wurden vor Gericht widerlegt.»
Die willkürliche Verfolgung von Vertreter*innen einer internationalen Menschenrechtsorganisation hat mit der heutigen Entscheidung jedoch noch kein Ende. Die Entscheidung des Gerichts, das Verfahren an die erste Instanz zurückzuweisen, ist enttäuschend. «Wie auch dieser unsinnige Prozess deutlich gemacht hat, sind Gerichte in der Türkei der verlängerte Arm der repressiven Regierung», so Alexandra Karle. «Wir erwarten vom Gericht, an welches das Verfahren zurücküberstellt wurde, dass es diese rein politisch motivierte Verfolgung der Menschenrechtsverteidiger*innen endlich beendet.»
Alexandra Karle betont: «Die Entscheidung des Kassationsgericht macht deutlich, dass die politische Repression gegen Taner Kılıç, İdil Eser, Özlem Dalkıran und Günal Kurşun nicht weitergeführt werden kann. Noch hält die belastende Ungewissheit für die vier Menschenrechtsverteidiger*innen sowie ihre Familien und Unterstützer*innen an. Wir stehen ihnen weiter solidarisch zur Seite, bis alle in letzter Instanz freigesprochen sind. Denn die Türkei geht nach wie vor systematisch gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, Medienschaffende und Oppositionelle vor.»
Amnesty International mahnt die internationale Gemeinschaft – darunter auch die Schweiz – alle bestehenden Verbindungen zur Türkei zu nutzen, und entschieden auf ein Ende der Unterdrückung der Menschenrechte, wie Versammlungs-, Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, hinzuwirken. Es liegt in ihrer Verantwortung entschieden auf die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention zu drängen, sowie auf den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen in der Türkei.
Hintergrund
Elf Menschenrechtsverteidiger*innen wurden im Sommer 2017 unter absurden «Terrorismus»-Vorwürfen festgenommen. Im Oktober 2017 begann der Prozess gegen Taner Kılıç und die als «Istanbul 10» bekannt gewordenen Aktivist*innen. Acht, darunter İdil Eser, Günal Kurşun, Özlem Dalkıran und Peter Steudtner, sassen fast vier Monate in Untersuchungshaft. Taner Kılıç verbrachte über 14 Monate in Untersuchungshaft.
Im Verlauf von etlichen Anhörungen seit Prozessauftakt im Oktober 2017 wurden die «Terrorismus»-Vorwürfe gegen die elf Angeklagten umfassend widerlegt, sogar durch eigene Beweise der türkischen Behörden. Trotzdem verurteilte ein Strafgericht in Istanbul Taner Kılıç am 3. Juli 2020 zu sechs Jahren und drei Monaten Haft wegen der «Mitgliedschaft in einer Terrororganisation». Die ehemalige türkische Amnesty-Direktorin İdil Eser sowie die langjährigen Amnesty-Mitglieder Özlem Dalkıran und Günal Kurşun wurden zu zwei Jahren und einem Monat Haft wegen der «Unterstützung einer Terrororganisation» verurteilt. Sieben weitere angeklagte Menschenrechtsverteidiger*innen wurden freigesprochen.
Im Mai 2022 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Untersuchungshaft von Taner Kılıç rechtswidrig und willkürlich war und ebenso wie das Strafverfahren gegen ihn unmittelbar mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger zusammenhängt. Das Urteil wurde im Oktober rechtskräftig.
Das Kassationsgericht hat die Urteile gegen Taner Kılıç, İdil Eser, Günal Kurşun und Özlem Dalkıran nun aufgehoben. Die vier Fälle werden jetzt vor einem Strafgericht in Istanbul neu verhandelt. Die Justiz in der Türkei wird seit Jahren instrumentalisiert, um die Zivilgesellschaft einzuschüchtern und mundtot zu machen.