© Amnesty International
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Erdbeben in der Türkei Menschen mit Behinderungen werden vernachlässigt

27. April 2023
Menschen mit Behinderungen, die nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei in Vertriebenenlagern leben, werden bei der humanitären Reaktion auf die Katastrophe übersehen, so Amnesty International in einem Bericht.

In dem Bericht «‘We all need dignity’: The exclusion of persons with disabilities in Turkiye’s earthquakes response» (PDF, english, 29 p) kritisiert Amnesty International, dass Menschen mit Behinderungen in den Lagern für Binnenvertriebene nach den verheerenden Erdbeben in der Türkei von der humanitären Hilfe vernachlässigt werden.

Mehr als 48'000 Menschen wurden bei den starken Erdbeben im Februar 2023 in der Türkei getötet und über 100'000 Menschen verletzt, viele von ihnen verloren Gliedmassen oder erlitten andere lebensverändernde Verletzungen. Schätzungsweise 3,3 Millionen Menschen wurden vertrieben, von denen sich etwa 2,3 Millionen in Zeltlagern und Containerniedersiedlungen befinden. Laut einer gemeinsamen Einschätzung der türkischen Regierung und der Vereinten Nationen werden bis zu 70 Prozent der verletzten Überlebenden von Erdbeben eine Behinderung haben.

«Die immense Notlage, mit der so viele Menschen nach den Erdbeben konfrontiert sind, wird für Menschen mit Behinderungen durch die Vernachlässigung in der humanitären Hilfe noch verschärft», sagt Matthew Wells, stellvertretender Direktor für Forschung im Programm für Krisenreaktion bei Amnesty International.

«Die derzeitige Planung von Notunterkünften berücksichtigt nicht die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen, um in Würde zu leben, und verhindert den gleichberechtigten Zugang vieler von ihnen zu Hilfsmassnahmen.

Die Regierung der Türkei und humanitäre Akteur*innen, einschliesslich internationaler Geber*innen, müssen sofort Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die humanitäre Hilfe für alle Überlebenden inklusiv ist, einschliesslich Menschen mit Behinderungen. Ihre Bedürfnisse müssen durch Bereitstellung dringend benötigter spezialisierter Unterstützung adressiert werden.»

Amnesty International erkennt das Ausmass und die Schwere der humanitären Krise infolge der Erdbeben an, betont jedoch, dass unabhängig von der Grösse des Notfalls die Rechte von Menschen mit Behinderungen vollständig respektiert werden müssen.

Der Bericht basiert in erster Linie auf Besuchen in den südlichen Provinzen der Türkei, darunter Adiyaman, Gaziantep, Hatay und Kahramanmaras. Insgesamt wurden im März und April 2023 von Amnesty International 131 Interviews mit Überlebenden der Erdbeben durchgeführt, darunter 34 Menschen mit Behinderung. Die Interviewpartner*innen umfassten 19 Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen, 26 Angehörige von Menschen mit Behinderung und 13 Helfer*innen, die an der humanitären Reaktion beteiligt waren.

Unzureichende Bedingungen in Lagern

In allen 21 von Amnesty International besuchten Orten waren die gemeinschaftlichen Sanitäranlagen für Menschen mit eingeschränkter oder keiner Mobilität unzugänglich – ein weit verbreitetes Muster, das von Helfer*innen bestätigt wurde. Durch diesen Missstand sind viele auf Pflegekräfte und Hilfsmittel wie Windeln für Erwachsene angewiesen. Betroffene Personen berichteten von Schwierigkeiten, Privatsphäre und Würde in diesen Umständen zu wahren.

Eine 48-jährige syrische Geflüchtete, der aufgrund von Diabetes das linke Bein und ein Teil des rechten Fusses amputiert wurde, berichtete: «Es gelingt mir nicht, die gemeinsamen Toiletten zu nutzen. Meine Angehörigen müssen mir helfen, von meinem Rollstuhl auf den Toilettensitz zu wechseln und danach die Toilette jedes Mal zu entleeren und zu reinigen... Wir alle brauchen ein bisschen Privatsphäre und Würde, aber das ist in diesen Umständen sehr schwierig.»

Nurcan, eine 32-jährige Frau mit körperlicher Behinderung, die von ihrer Familie zu den Einrichtungen im Lager getragen wird, sagte: «Ich kann die Toilette nicht benutzen. Ich kann nicht duschen... Ich kann nicht gut essen. Ich habe Angst, dass ich hier genauso esse wie vorher und dann zur Toilette [getragen werden] muss.»

Ein 13-jähriges Mädchen, das bei einem Erdbeben ihr rechtes Bein verloren hat und auch ihre Mutter dabei ums Leben kam, berichtete Amnesty International von ihren Erfahrungen. Sie ist gezwungen, Windeln zu tragen und ist auf ihre 18-jährige Schwester angewiesen, um sie zu versorgen und zu reinigen. Ihre Schwester sagte: «Sie kann die Toilette nicht benutzen, weil sie zu instabil ist und ein Sturz für ihre Amputationswunde sehr gefährlich wäre.»

Diese Notfallmassnahmen erfüllen nicht die menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie die humanitären Prinzipien der Inklusivität und Nichtdiskriminierung. Fast alle Menschen mit Behinderungen, die von Amnesty International interviewt wurden – einschliesslich älterer Menschen mit eingeschränkter Mobilität – waren darauf angewiesen, dass ihre Angehörigen Lebensmittel und andere Hilfsgüter wie Hygieneartikel von Verteilungspunkten abholten.

Dringender Bedarf an spezialisierter Gesundheitsversorgung

Amnesty International dokumentierte das Fehlen geeigneter Hilfsmittel (z. B. Rollstühle) und die Unterbrechung von spezialisierter Versorgung.

Bahir Ghazi, 58, der in einem Lager für Vertriebene im Zentrum von Antakya lebt, berichtete, dass seine beiden Töchter mit körperlichen Behinderungen im Alter von 22 und 32 Jahren zweimal pro Woche ein Rehabilitationszentrum besuchten, das jedoch während des Erdbebens eingestürzt ist. Es wurde noch keine Alternative bereitgestellt.

Die Erdbeben führten zu massiven Unterbrechungen von Gesundheitsdiensten, einschliesslich solcher für Menschen mit Behinderungen, aufgrund des vollständigen Zusammenbruchs oder schwerer Schäden an Einrichtungen sowie dem Tod, Verletzungen und der Vertreibung von Personal.

Amnesty International stellte auch fest, dass ein dringender Bedarf besteht, psychische Gesundheits- und psychosoziale Unterstützungsdienste auszuweiten, um bestehenden und sich entwickelnden Bedürfnissen gerecht zu werden.

Fadime Cetin, 51, ist eine Krebspatientin, die ihren Ehemann mit Alzheimer-Krankheit und zwei Kindern mit Behinderungen unterstützt. Sie erzählte Amnesty International, wie ihre Familie fünf Tage nach dem Einsturz ihres dreistöckigen Gebäudes in der Stadt Kahramanmaras unter den Trümmern hervorgezogen wurde, wobei mehrere Familienmitglieder ums Leben kamen.

Fadime sagte, dass die Sicherheit ihres 17-jährigen Sohnes, der an einer psychischen Erkrankung leidet, ständig besorgniserregend ist. Sie sagte: «Manchmal greift er nach den Kopftüchern von Frauen... Wenn er solche Dinge tut, schlagen ihn [Leute] und beleidigen ihn», und dass er manchmal in der Nähe ihres provisorischen Lagerplatzes auf der Strasse umherwandert und sich mitten im Verkehr hinsetzt. Als Ergebnis fühlt sie sich gezwungen, einen Fuss des Jungen tagsüber an eine Holzpalette vor ihrem Zelt zu binden, um seine Bewegungen einzuschränken. Sie fügte hinzu: «In unserem Haus haben wir ihn früher nicht festgebunden. Er war zu Hause frei.»

Melek, 35, lebt derzeit mit ihren drei Kindern und Schwiegereltern in einem Zeltlager in Narli ausserhalb der Stadt Kahramanmaras. Sie beschrieb, wie ihre fünfjährige Tochter seit dem Erdbeben Anzeichen von Stress zeigt, einschliesslich des Sprechens im Schlaf. Melek sagte: «Manchmal, wenn ich sie aufwecke, um auf die Toilette zu gehen, fragt sie mich als Erstes: 'Gab es ein Erdbeben?‘«

Inklusive humanitäre Hilfe erforderlich

Als Vertragsstaat des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist die türkische Regierung verpflichtet, Massnahmen zur Förderung, zum Schutz und zur Gewährleistung des vollen und gleichberechtigten Genusses aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu ergreifen.

Die türkische Regierung und die Akteur*innn der humanitären Hilfe müssen dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderungen und ihre Betreuer*innen angemessen unterstützt werden, indem sie unter anderem sanitäre Einrichtungen zugänglich machen und die Bereitstellung von Hilfsgütern verbessern. Dazu gehört auch die systematische Erhebung und Analyse von nach Alter, Geschlecht und Behinderung aufgeschlüsselten Daten, die den an der Nothilfe beteiligten humanitären Akteur*innen zur Verfügung gestellt werden sollten, um eine angemessene und effiziente bedarfsgerechte Versorgung zu gewährleisten.

«Es gibt eindeutig grundlegende Mängel bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen nach den Erdbeben. Die Auswirkungen dieser humanitären Katastrophe werden über Generationen hinweg zu spüren sein. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Einrichtungen und Dienstleistungen haben», sagte Nils Muižnieks, Direktor des Regionalbüros Europa von Amnesty International.

«Internationale Geber*innen müssen mehr tun, um die humanitäre Hilfe in der Türkei während dieser beispiellosen Krise zu unterstützen und die technische und finanzielle Hilfe aufzustocken, auch um die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sofort zu erfüllen.»