Der Appell der Menschenrechtsorganisation erfolgt nach der Ausweitung des generellen Versammlungsverbots in drei Städten. Die Behörden bestätigten, dass seit Beginn der Proteste am 19. März über 1100 Demonstrierende festgenommen wurden. Darüber hinaus liegen zahlreiche Berichte über Verletzte vor. Die Nutzung der Sozialen Medien sei durch eine Drosselung der Internet-Geschwindigkeit eingeschränkt worden und bei Hausdurchsuchungen im Morgengrauen seien Journalist*innen festgenommen worden, die zuvor über die überwiegend friedlichen Proteste berichtet hatten.
«Die Drosselung der Internet-Geschwindigkeit ist ein unverblümter Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäusserung...» Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International
«Die Polizei muss sofort damit aufhören, mit unverhältnismässiger Gewalt gegen friedliche Protestierende vorzugehen. Amnesty International hat das Filmmaterial zu zahlreichen Übergriffen gesichtet und erinnert die türkischen Behörden eindringlich daran, dass sich das polizeiliche Vorgehen bei Protesten an internationale Menschenrechtsnormen und -standards orientieren muss», sagte Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
«Amnesty International hat Aufnahmen ausgewertet, die zeigen, dass die Polizei völlig ungerechtfertigt Gewalt gegen friedliche Demonstrierende anwendet. Beamt*innen setzen Schlagstöcke ein und treten Demonstrierende auch noch, wenn sie schon am Boden liegen. Der wahllose Einsatz von Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfern gegen friedliche Demonstrierende ist ebenso schockierend wie der Einsatz von Plastikkugeln, die von den Polizeikräften manchmal aus nächster Nähe auf Gesicht und Oberkörper abgefeuert werden. Dieses Vorgehen hat zu zahlreichen Verletzungen geführt. Einige Betroffene mussten gar im Spital behandelt werden. Solche rechtswidrigen Gewalttaten müssen umgehend untersucht und die Täter*innen vor Gericht gestellt werden.»
Die überwiegend friedlichen Demonstrationen begannen in Istanbul nach der Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu, der als aussichtsreichster politischer Herausforderer des türkischen Präsidenten Erdoğan bei der für 2028 angesetzten Wahl gilt. Die Demonstrationen haben sich über weite Teile des Landes ausgebreitet und wurden mit unnachgiebiger Gewalt bekämpft.
Amnesty erinnert die türkischen Behörden daran, dass die Anwendung von Gewalt durch die Polizei streng kontrolliert werden muss. Tränengas und Wasserwerfer sollten beispielsweise nur dann eingesetzt werden, wenn es zu massiver Gewalt gegen Personen kommt, die nicht durch weniger schädliche Massnahmen eingedämmt werden kann. Selbst wenn Teilnehmer*innen vereinzelt Gewalttaten begehen, wird eine Demonstration dadurch nicht als Ganzes gewalttätig. Die wahllose Anwendung von Gewalt durch die Polizei gegen alle Teilnehmer*innen kann mit so einer Argumentation nicht gerechtfertigt werden.
«Der wahllose Einsatz von Pfefferspray, Tränengas und Wasserwerfern gegen friedliche Demonstrierende ist ebenso schockierend wie der Einsatz von Plastikkugeln, die von den Polizeikräften manchmal aus nächster Nähe auf Gesicht und Oberkörper abgefeuert werden.» Agnès Callamard
In den frühen Morgenstunden des 24. März wurden bei mehreren Hausdurchsuchungen mindestens acht Journalist*innen, die über die Proteste berichtet hatten, in ihren Wohnungen festgenommen. Ausserdem war 42 Stunden lang der Zugang zu Sozialen Medien und Nachrichtenseiten nur einschränkt möglich. Mehr als 700 Accounts von Journalist*innen, Aktivist*innen und Oppositionellen auf Twitter/X wurden gesperrt.
«Die Drosselung der Internet-Geschwindigkeit ist ein unverblümter Angriff auf das Recht auf freie Meinungsäusserung. Die Behörden sollten von derartigen Massnahmen absehen. Social Media-Anbieter, insbesondere X, müssen unverzüglich Massnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Plattformen von Personen, die der türkischen Regierung kritisch gegenüberstehen, wieder zugänglich sind», sagte Agnès Callamard.
«Es ist absolut zentral, dass die türkischen Behörden das Recht auf friedliche Versammlung respektieren. Sie müssen die willkürlichen Demonstrationsverbote sofort aufheben und alle Personen umgehend freilassen, die lediglich aufgrund der Wahrnehmung ihrer Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit willkürlich inhaftiert sind.»
Hintergrund
Zu den am 24. März festgenommenen Journalist*innen gehören Ali Onur Tosun, Bülent Kılıç, Zeynep Kuray, Yasin Akgül, Hayri Tunç, Kurtuluş Arı, Zişan Gür, Murat Kocabaş und Barış İnce.
Nachdem die Istanbuler Staatsanwaltschaft am 23. März die Inhaftierung von mehr als 100 Personen angeordnet hatte – darunter Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu und zwei prominente Bezirksbürgermeister von Istanbul – wurden 48 Personen in Untersuchungshaft genommen. 44 von ihnen wurden später unter Auflagen wieder freigelassen.
Ekrem İmamoğlu wurde auf der Grundlage des Gesetzes zur Bekämpfung von kriminellen Vereinigungen mit Absicht der Gewinnerzielung in Untersuchungshaft genommen. Ihm werden die Leitung einer kriminellen Vereinigung, die Annahme von Bestechungsgeldern, Unterschlagung, die illegale Aufzeichnung personenbezogener Daten und Angebotsmanipulationen vorgeworfen.