Der Bericht «“You don’t exist.“ Arbitrary Detentions, Enforced Disappearances, and Torture in Eastern Ukraine», pdf englisch, 44 Seiten («”Du existierst nicht.” Willkürliche Verhaftungen, erzwungenes Verschwindenlassen und Folter in der Ostukraine») basiert auf Befragungen von 40 Opfern von Menschenrechtsverletzungen, ihren Familienangehörigen, Zeuginnen, Anwälten und anderen Quellen.
Amnesty International und Human Rights Watch haben neun Fälle dokumentiert, in denen ukrainische Behörden Zivilpersonen willkürlich verhaftet und über einen langen Zeitraum eingesperrt haben. Darunter sind auch Menschen, die Opfer von erzwungenem Verschwindenlassen sind, das heisst, dass sie verschleppt und in Geheimgefängnisse gesperrt wurden. Auf der anderen Seite haben auch die russischen Separatisten in der Ostukraine mindestens neun Zivilisten willkürlich gefangen genommen und eingesperrt. Die meisten im Bericht dokumentierten Vorfälle ereigneten sich 2015 und im ersten Halbjahr 2016.
«Menschen in der Ostukraine werden von beiden Konfliktparteien einfach verschleppt und weggesperrt und sind dann schutzlos der Gnade ihrer Bewacher ausgeliefert», sagt Tanya Lokshina, Senior Researcherin von Human Rights Watch für Europa und Zentralasien. «Es ist niemals rechtmässig oder gerechtfertigt, Menschen einfach auf der Strasse zu kidnappen und einzusperren, jeden Kontakt zur Familie und Anwälten zu unterbinden, sie zu schlagen oder anderweitig zu misshandeln».
«Folter und Geheimgefängnisse sind in der Ukraine keine schrecklichen Relikte der Vergangenheit. Sie sind in der Ukraine heute noch Alltag und beide Konfliktparteien sind verantwortlich dafür», sagt Denis Krivosheev, stellvertretender Direktor von Amnesty International für Europa und Zentralasien. «Die Länder, die eine der beiden Seiten in diesem Konflikt unterstützen, wissen das ganz genau. Sie dürfen die Augen vor diesen schlimmen Menschenrechtsverletzungen nicht verschliessen».
Verschwindenlassen und Folter
Die ukrainischen Behörden und die Kiew-treuen Paramilitärs haben Zivilpersonen eingesperrt, weil sie verdächtigt werden, pro-russische Separatisten unterstützt zu haben. Die pro-russischen Separatisten sperren wiederum Menschen ein, die unter Verdacht stehen, die ukrainische Regierung zu unterstützen. Das haben Amnesty International und Human Rights Watch dokumentiert.
Um nur ein belegtes Beispiel zu nennen: Der 39-jährige «Vadim» wurde erst von der einen Konfliktpartei verschleppt und gefoltert, dann von der anderen. Im April 2015 hielten ihn bewaffnete Kräfte an einem ukrainischen Checkpoint fest, zogen ihm einen Sack über den Kopf und verhörten ihn über seine angeblichen Kontakte zu den pro-russischen Separatisten. Danach hielten sie ihn über sechs Wochen lang gefangen, die meiste Zeit in einem Geheimgefängnis, das vom ukrainischen Geheimdienst betrieben wurde. Seine «Befrager» folterten ihn mit Elektroschocks, brannten ihn mit Zigaretten und schlugen ihn. Damit wollten sie ein Geständnis erpressen, dass er für die pro-russische Seite arbeite.
Als «Vadim» endlich freigelassen wurde, kehrte er nach Donetsk zurück. Dort wurde er sofort von den lokalen de-facto Behörden verhaftet, die ihm unterstellten, dass er sich während seiner Zeit im Gefängnis vom ukrainischen Geheimdienst habe anwerben lassen. Er wurde wieder für zwei Monate eingesperrt, diesmal in einem inoffiziellen Gefängnis in Donetsk, ohne Kontakt zur Aussenwelt. Auch dort wurde er misshandelt und geschlagen.
Beide Konfliktparteien müssen handeln
Das Foltern von Gefangenen ist immer verboten und deshalb ein Verbrechen, betonen Amnesty International und Human Rights Watch. Die ukrainische Regierung und die pro-russischen De-facto-Behörden in der Ostukraine müssen sicherstellen, dass alle ihnen unterstellten Truppen und Kämpfer dies wissen und berücksichtigen. Sie müssen klarmachen, dass sie Folter und Misshandlung nicht tolerieren.
In den meisten der 18 untersuchten Fälle kamen die Gefangenen im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. Das legt die Vermutung nahe, dass beide Konfliktparteien Zivilpersonen verschleppen und einsperren und sie als eine Art «Währung» betrachten. Solche Verschleppungen entsprechen Geiselnahmen und wären somit als Kriegsverbrechen zu werten.
Menschen, die von den Konfliktparteien in der Ostukraine gefangen gehalten werden, stehen unter dem Schutz des internationalen Rechts, das willkürliche Haft, Folter und Misshandlung verbietet. Internationale Standards sehen vor, dass Vorwürfe von Folter und Misshandlung von Häftlingen unabhängig untersucht werden müssen und, wenn entsprechende Beweise vorliegen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Gefangene müssen mit Wasser, Nahrung, Kleidung, Schutz und Medizin oder ärztlicher Betreuung versorgt werden.
Die ukrainische Regierung und die pro-russischen De-facto-Behörden in den selbsternannten Volksrepubliken Donetsk und Luhansk müssen sofort dafür sorgen, dass das Verschwindenlassen und die Inhaftierung in Geheimgefängnissen ein Ende haben. Sie müssen eine Null-Toleranz-Politik bei Folter und Misshandlung von Gefangenen fahren. Alle Konfliktparteien müssen sicherstellen, dass sich die ihnen unterstellten Kräfte darüber klar sind, was das internationale Recht für Folter und Misshandlung von Gefangenen besagt.