Hanna Selivon in ihrem zerstörten Haus in Tschernihiw, Juli 2022 © Amnesty International
Hanna Selivon in ihrem zerstörten Haus in Tschernihiw, Juli 2022 © Amnesty International

Ukraine Das Leid der älteren Menschen unter dem russischen Angriffskrieg

Medienmitteilung 6. Dezember 2022, London/Bern – Medienkontakt
Ältere Menschen leiden besonders stark unter dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Viele können nicht mehr aus umkämpften Gebieten fliehen und sind in Gefahr, getötet oder verletzt zu werden. Wem die Flucht gelingt, lebt oft in prekären Verhältnissen. Die Menschen brauchen dringend Unterstützung.

Der Bericht «I used to have a home: Older people’s experience of war, displacement, and access to housing in Ukraine»  (PDF, 96 Seiten in Englisch) zeigt, dass ältere Menschen in der Ukraine besonders stark unter der Invasion der russischen Streitkräfte leiden. Das liegt unter anderem daran, dass viele von ihnen in umkämpften Gebieten bleiben. Oft sind sie nicht mehr in der Lage, zu fliehen, obwohl die Lebensbedingungen in den stark beschädigten Wohnungen gefährlich sind. Diejenigen, die noch fliehen können, können sich oft die Mietkosten ihrer neuen Unterkunft nicht leisten. Deswegen sind Tausende in völlig überfüllten staatlichen Einrichtungen untergebracht, die aufgrund von Personalmangel die erforderliche Betreuung nicht gewährleisten können.

«Der verheerende Einmarsch Russlands hat besonders gravierende Auswirkungen auf ältere Menschen in der Ukraine, von denen viele in Gebieten zurückbleiben, in denen sie wiederholt durch Boden- und Luftangriffe in Gefahr geraten», sagt Laura Mills, Expertin für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen bei Amnesty International. Die ukrainische Regierung hat erhebliche Anstrengungen zur Evakuierung der Bewohner*innen von Konfliktgebieten unternommen. So hat sie im Juli die obligatorische Evakuierung von rund 200‘000 Menschen aus der Region Donezk angekündigt. Doch die Kosten und die Logistik für die Bereitstellung von Wohnraum für ältere Kriegsflüchtlinge sollten nicht allein von der Ukraine getragen werden. Amnesty International fordert andere Länder auf, die Evakuierung älterer Menschen in geeignete Unterkünfte im Ausland zu unterstützen, wo immer dies möglich ist. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Personen mit Behinderungen liegen. Internationale Organisationen sollten zudem mehr tun, um ältere Menschen finanziell zu unterstützen, damit sie sich eine Wohnung leisten können. Ältere Menschen sollten in die Liste derjenigen aufgenommen werden, die bei der Unterbringung in Neubauwohnungen Vorrang haben.

Amnesty International appelliert an alle Geberländer, welche die Ukraine beim Wiederaufbau unterstützen, die Bedürfnisse von älteren Menschen, Menschen mit Behinderung und allen anderen Menschen, die überproportional stark von den Folgen des Krieges betroffen sind, prioritär zu berücksichtigen. Die Schweiz nahm bisher durch die Organisation der ersten Wiederaufbau-Konferenz für die Ukraine im Juli und mit dem Besuch von Aussenminister Cassis in Kiew im Oktober eine proaktive Rolle bei der Unterstützung der Vorbereitungsarbeiten für den Wiederaufbau der Ukraine ein. Sie ist angehalten, bei den von ihr finanzierten Wiederaufbauprojekten die oben genannten Bedürfnisse angemessen zu berücksichtigen.

Ältere Menschen besonders gefährdet

In der Ukraine machen die über 60-Jährigen knapp ein Viertel der Bevölkerung aus. Sie leben unter besonders hohem Risiko getötet oder verletzt zu werden: Nach Angaben des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte, das Daten über zivile Opfer in der Ukraine sammelt, machten Menschen über 60 Jahre 34 % der von Februar bis September 2022 getöteten Zivilpersonen aus (sofern ein Alter angegeben wurde).

Ältere Menschen, die häufiger gesundheitliche Probleme haben, sind auch in den von Russland besetzten Gebieten stärker gefährdet. Dort haben die russischen Streitkräfte den Zugang für humanitäre Hilfe stark eingeschränkt, was eine eklatante Verletzung des Völkerrechts darstellt.

Einige Senior*innen haben sich dafür entschieden, in ihrem Zuhause zu bleiben. Andere berichteten Amnesty International, dass sie nicht fliehen konnten, weil sie nur unzureichend über die Evakuierungsmassnahmen informiert worden waren. Viele ältere Menschen leben in Wohnungen ohne Strom, Gas oder fliessendes Wasser. Fenster oder Dächer, die während der Kämpfe beschädigt worden waren, bieten vor Regen, Schnee und Kälte keinen Schutz mehr.

Amnesty International besuchte sieben Einrichtungen für ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen in der Ukraine und stellte fest, dass diese Einrichtungen nicht in der Lage sind, das erforderliche Mass an Pflege zu leisten – insbesondere für ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität –, zum Teil weil sie nicht über genügend Pflegepersonal verfügen. Unabhängige ukrainische Beobachter berichteten, dass solche Zustände bereits vor der Invasion herrschten, der Krieg jedoch den Personalmangel weiter verschärft hat.

Infolgedessen hatten ältere Menschen mit Behinderungen oft keine andere Wahl, als in einer staatlichen Einrichtung zu leben. Allein zwischen Februar und Juli 2022 wurden nach Angaben des ukrainischen Ministeriums für Sozialpolitik mindestens 4000 ältere Menschen in staatlichen Einrichtungen untergebracht, nachdem sie während des Konflikts ihr Zuhause verloren hatten.

Methodik

Amnesty International hat für diesen Bericht 226 Personen befragt, unter anderem bei persönlichen Besuchen in sieben staatlichen Einrichtungen. Die Untersuchung wurde zwischen März und Oktober 2022 durchgeführt und umfasste eine vierwöchige Reise in die Ukraine im Juni und Juli 2022.

Verantwortung für Kriegsverbrechen

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 dokumentiert Amnesty International Kriegsverbrechen und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht. Alle Berichte von Amnesty International finden Sie hier.

Amnesty International hat in den vergangenen Monaten wiederholt dazu aufgerufen, die Verantwortlichen für die Aggression gegen die Ukraine sowie für Menschenrechtsverstösse und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty International begrüsst die fortlaufenden Untersuchungen des Internationalen Strafgerichthofes in der Ukraine. Eine umfassende Einforderung der Rechenschaftspflicht kann nur mit konzertierten Aktionen der Vereinten Nationen und ihrer Organe und mit Initiativen auf nationaler Ebene gemäss der universellen Gerichtsbarkeit gelingen.