Wohnhäuser in Lwiw, die vom Strom abgeschnitten sind © 2022 SOPA Images
Wohnhäuser in Lwiw, die vom Strom abgeschnitten sind © 2022 SOPA Images

Ukraine Zivilbevölkerung leidet unter verheerenden Stromausfällen

Medienmitteilung 21. Dezember 2022, London/Bern – Medienkontakt
Die Angriffe der russischen Streitkräfte auf die ukrainische Energie-Infrastruktur sind ein klarer Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht. Amnesty International fordert die russischen Truppen auf, die rechtswidrigen Attacken auf die zivile Infrastruktur einzustellen.

«Auf der ganzen Welt bereiten sich zahlreiche Länder auf die Feiertage vor und schmücken ihre Strassen mit Weihnachtsbeleuchtung. Dabei darf die Welt jedoch die Ukraine nicht vergessen, wo gnadenlose Dunkelheit herrscht, da Russland dort weiterhin bewusst und unrechtmässig die Energie-Infrastruktur ins Visier nimmt», sagt Denis Krivosheev, Experte für Europa und Zentralasien bei Amnesty International.

Die bereits seit Monaten andauernden Angriffe der russischen Truppen auf die ukrainische Energie-Infrastruktur blockieren den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Lebensmitteln für die Zivilbevölkerung. Auch können die Menschen ihre kalten Wohnungen nicht angemessen heizen.

Die ukrainischen Behörden versuchen zwar, die beschädigte Infrastruktur zu reparieren, müssen aber gleichzeitig auch geplante Netzausfälle vornehmen, um dadie verbleibende Energie-Infrastruktur nicht zu überlasten. Im Oktober 2022 waren mindestens 40% der Energieeinrichtungen des Landes schwer beschädigt. Die Behörden gaben im Dezember an, dass mehr als die Hälfte aller Energieverbraucher*innen in der Ukraine von Stromausfällen betroffen war.

Amnesty International fordert die russischen Streitkräfte auf, ihre Angriffe auf die Ukraine einzustellen, und appelliert an die internationale Gemeinschaft, die ukrainische Zivilbevölkerung über den Winter hinweg zu unterstützen.

Stromausfälle verschärfen Gesundheitskrise

Amnesty International hat mit Menschen im ganzen Land gesprochen, die von den Auswirkungen auf ihr tägliches Leben berichteten. Olena* sagte im Gespräch mit Amnesty International: «Es gibt ständig Luftangriffe – auch jetzt gerade. Bei diesen Angriffen kommen alle Institutionen zum Stillstand, die Gesundheitsleistungen anbieten wie Spitäler oder private Kliniken aber auch Einrichtungen wie Lebensmittelläden oder öffentliche Verkehrsmittel.»

Einmal hatte Olena mit ihrem Sohn einen Arzttermin für eine Impfung, doch aufgrund eines russischen Luftangriffs musste die Klinik den Termin kurzfristig absagen. Erst mehr als 24 Stunden später konnte sie den Termin wahrnehmen, was wiederum den Rückstau für andere Menschen verschärfte, die medizinische Versorgung in Anspruch nehmen wollten.

Neben diesem eingeschränkten Zugang zu Routineuntersuchungen sind auch chirurgische Eingriffe stark betroffen, die aufgrund der ständigen und unvorhersehbaren Stromausfälle unter lebensbedrohlichen Bedingungen ausgeführt werden müssen.

Schulbesuche für Kinder stark eingeschränkt

Jeder verpasste Schultag kann langfristige Auswirkungen auf die Bildungschancen eines Kindes haben. Die anhaltenden Stromausfälle in der Ukraine bedeuten, dass viele Kinder weder persönlich noch über Online-Plattformen am Unterricht teilnehmen können. Wer den Weg zur Schule auf sich nimmt, riskiert unter Umständen sein Leben und muss damit rechnen, in absoluter Dunkelheit unterwegs zu sein.

Kateryna* berichtete Amnesty International: «Da die Ampeln und Strassenbeleuchtung während der Netzausfälle nicht funktionieren, herrscht oft Verkehrschaos. Wer sein Kind in die Schule bringt und abends wieder abholt, muss sich Sorgen machen, weil beim Überqueren der Strassen eine hohe Unfallgefahr besteht. Die Todesrate bei Fussgänger*innen hat sich erhöht.»

Denis Krivosheev erklärt: «Bildung ist das Fundament einer gut funktionierenden Gesellschaft, doch in der Ukraine nimmt Russland vorsätzlich die zivile Infrastruktur und auch Schulen ins Visier. Die Kinder können noch nicht einmal Fernunterricht nehmen, weil es keinen Strom und keine Heizung gibt. Russland bedroht nicht nur die gegenwärtige Lage in der Ukraine, sondern auch die Zukunft des Landes.»

Sorge um Gesundheit und psychische Belastungen

Neben dem eingeschränkten Zugang zu Bildung führen die russischen Angriffe in der Ukraine überdies dazu, dass Lebensmittel aufgrund der Stromausfälle schlecht werden. Kinder leiden daher nicht nur unter kalten Temperaturen, sondern auch unter Lebensmittelknappheit.

«Kochen ist schwierig. Es ist nicht gut, einem Kind jeden Tag Würste vorzusetzen. Aber man kann einfach kein Essen kochen, das eineinhalb Stunden dauert. Deshalb dünste ich Couscous und Würste», sagt Olena. «Alles ist sehr stressig. Geräte aufladen, Zeit zum Kochen finden. Wenn die Lichter an sind, muss man alles auf einmal machen, keine Zeit zum Ausruhen – es gibt nie wirklich Zeit zum Ausruhen. Und deshalb sind wir ständig angespannt, es ist sehr belastend.»

Marginalisierte Gruppen besonders gefährdet

Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen sowie einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen sind besonders von den Stromausfällen betroffen.

Das Verlassen ihrer Wohnungen ist für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die in Mehrgeschossbauten leben, schwierig. Manche haben in den Aufzügen Notfallmaterialien wie Stühle, Wasser und Lebensmittel deponiert, falls jemand aufgrund eines Stromausfalls darin festsitzt. Abgesehen von den körperlichen Auswirkungen kann diese Situation auch schwere Folgen für die geistige Gesundheit haben.  Viele geringverdienende Menschen können es sich aufgrund der Kosten kaum leisten, ihre kalten Wohnungen mit zusätzlichen Generatoren, Gasbehältern oder Gasöfen zu heizen.

Verantwortung für Kriegsverbrechen

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 dokumentiert Amnesty International Kriegsverbrechen und Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht. Alle Berichte von Amnesty International finden Sie hier.

Amnesty International hat in den vergangenen Monaten wiederholt dazu aufgerufen, die Verantwortlichen für die Aggression gegen die Ukraine sowie für Menschenrechtsverstösse und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty International begrüsst die fortlaufenden Untersuchungen des Internationalen Strafgerichthofes in der Ukraine. Eine umfassende Einforderung der Rechenschaftspflicht kann nur mit konzertierten Aktionen der Vereinten Nationen und ihrer Organe und mit Initiativen auf nationaler Ebene gemäss der universellen Gerichtsbarkeit gelingen.


*Name zum Schutz der Privatsphäre geändert.