Symbolbild (nach Ablauf der Bildrechte des Originalbildes) © pixabay (wal_172619)
Symbolbild (nach Ablauf der Bildrechte des Originalbildes) © pixabay (wal_172619)

Ukraine Russischer Angriffskrieg birgt grosse Gefahren für Frauen

8. März 2023
Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich erheblich auf die psychische, physische, sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen ausgewirkt. Amnesty International fordert, dass Frauen aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

Während die russische Invasion in die Ukraine in ihr zweites Jahr geht, sehen sich die Frauen im Kriegsgebiet schwerwiegenden Risiken, einer erhöhten Belastung durch Betreuungsaufgaben sowie immensem Stress und Härten ausgesetzt, schreibt Amnesty International anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März.

«Im Krieg in der Ukraine werden Frauen mit zunehmender sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt und gesundheitlichen Gefahren konfrontiert.» Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, sagt: «Häufig stehen die Frauen an der vordersten Front von Konflikten– sei es als Soldatinnen und Kämpferinnen, Ärztinnen und Krankenschwestern, Freiwillige, Friedensaktivistinnen, Betreuerinnen für ihre Gemeinden und Familien, Binnenvertriebene, Geflüchtete und allzu oft als Todesopfer. Im Krieg in der Ukraine werden Frauen mit zunehmender sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt und gesundheitlichen Gefahren konfrontiert. Gleichzeitig sind sie gezwungen, für ihre Familien Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen. Dabei sind gerade Frauen häufig von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und ihre Bedürfnisse bleiben unerfüllt.»

Amnesty International fordert die internationale Gemeinschaft daher auf, Frauen, deren Menschenrechte durch den Krieg in der Ukraine verletzt werden, zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren. Die Gewährleistung der Sicherheit der Zivilbevölkerung sowie der Zugang zu finanzieller Hilfe und Dienstleistungen, einschliesslich der Gesundheitsversorgung, ist in Kriegszeiten von entscheidender Bedeutung. Gleichzeitig müssen die Täter*innen, die Verbrechen nach dem Völkerrecht begehen, zur Rechenschaft gezogen werden.

Amnesty International hat Kriegsverbrechen und mutmassliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, die in der Ukraine begangen wurden, und hat erschütternde Berichte von Frauen in der Ukraine gesammelt, die die Auswirkungen der Invasion auf ihre Sicherheit, ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen detailliert beschreiben.

Gezwungen, zu bleiben

Obwohl viele Frauen in der Ukraine Widerstand gegen die russische Aggression leisten, liegt die Verantwortung für die Betreuung von Kindern und Familienangehörigen unverhältnismässig oft bei den Frauen. Die Bewältigung dieser Betreuungsaufgaben ist unter den prekären Bedingungen des Konflikts besonders schwierig.

Tamara* lebt im Kriegsgebiet in der Oblast Donezk und berichtet Amnesty International, wie sich die russische Invasion auf sie als Mutter und Betreuerin ihrer Eltern ausgewirkt hat: «Alles hat sich zum Schlechten gewendet. Die Männer [der Familie] sind im Krieg, die Frauen bleiben allein zurück, viele mit kleinen Kindern und ohne jegliches Einkommen. Hilfe gibt es keine – weder materielle, noch finanzielle.» Tamara war gezwungen, ins Gefahrengebiet zurückzukehren, weil sie sich um ihre Eltern kümmern musste.

«Von diesem Tag an haben wir fast einen Monat lang in einem Keller gewohnt, weil die Kinder zu grosse Angst hatten. Meine Tochter konnte nicht mehr im Haus schlafen.» Maryna*, binnenvertriebene ukrainische Mutter

Für viele Frauen birgt die Reise in die Sicherheit eine erhebliche emotionale und körperliche Belastung. Maryna*, eine Binnenvertriebene, die mit ihren Kindern wegen der russischen Besetzung aus der Oblast Donezk geflohen ist, sagt gegenüber Amnesty International: «Es ist sehr schwer. Ich bin allein mit drei Kindern. Der Krieg war ein Schock. Wir haben überall die schweren Gefechte gehört. Die russischen Militärflugzeuge sind so niedrig geflogen, dass wir die Augen der Pilot*innen darin sehen konnten. Von diesem Tag an haben wir fast einen Monat lang in einem Keller gewohnt, weil die Kinder zu grosse Angst hatten. Meine Tochter konnte nicht mehr im Haus schlafen. Meine Kinder leiden unter den schweren psychischen und emotionalen Belastungen. Wegen des Beschusses und der Luftangriffsalarme kann man sich nirgendwo mehr sicher fühlen.»

Auswirkungen auf seelische und körperliche Gesundheit

Russlands anhaltende Attacken auf die kritische zivile Infrastruktur, die Kriegsverbrechen gleichkommen, haben für die Bewohner*innen der Ukraine den Zugang zu Gesundheitsversorgung massiv untergraben. Die Invasion wirkt sich schädlich auf die seelische, körperliche sowie sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen aus.

Kateryna*, eine Binnenvertriebene, die zu Beginn der Invasion in der neunten Woche schwanger war und in der Oblast Donezk lebte, berichtete Amnesty International: «Ich wusste nicht, was mit uns geschehen würde. Es gab Gerüchte über Evakuierungen und darüber, dass Ärzte die Region verlassen würden. Ich konnte die Ultraschalluntersuchung und all die anderen Untersuchungen nicht machen. Das hat die Angst und die emotionale Anspannung noch verschärft.»

Nachdem sie nach Dnipro geflohen war, sah sich Kateryna anhaltenden Schwierigkeiten gegenüber, da sie ein Neugeborenes zu versorgen hatte und gleichzeitig im Kriegsgebiet arbeitete. «Die Frontlinie rückt immer näher an unsere Stadt heran. Die Ungewissheit ist das Beklemmendste. Wo wirst du morgen sein? Kannst du morgen noch nach Hause gehen? Ich bräuchte psychologische Hilfe, aber wegen meinem kleinen Kind habe ich nicht genug Zeit, um mit einer Psychologin zu sprechen, nicht einmal am Telefon.»

«Es gibt Binden und Tampons zu kaufen, aber aufgrund der finanziellen Probleme muss ich mich entscheiden, ob ich Geld für Essen oder Binden ausgebe.» Tamara*

Menstruierende Frauen und Mädchen sind aufgrund begrenzter Vorräte und gestiegener Preise für Produkte der Monatshygiene gezwungen, sich zwischen Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu entscheiden.»

«Es gibt Binden und Tampons zu kaufen, aber aufgrund der finanziellen Probleme muss ich mich entscheiden, ob ich Geld für Essen oder Binden ausgebe. Seit dem Beginn des Grossangriffs benutze ich improvisierte Hilfsmittel», sagt Tamara*.

Zunahme von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt

In den vom Konflikt betroffenen Regionen kommt es vermehrt zu geschlechtsspezifischer Gewalt. Grund sind der Mangel an Sicherheit, das Fehlen der Rechtsstaatlichkeit, die weit verbreitete Straflosigkeit und das fehlende Vertrauen gegenüber den Besatzungsbehörden sowie das Stigma, das mit sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt einhergeht.

Maryna*, eine Mitarbeiterin einer humanitären Organisation, berichtete Amnesty International: «Sexueller Missbrauch ist ein gigantisches Problem für Frauen. Ich habe an einer Schulung teilgenommen, und man hat uns gesagt, dass es Fälle gibt, in denen Kinder Anzeichen für sexuellen Missbrauch aufwiesen».

Kateryna sagte Amnesty International: «Es gibt mehr Konflikte zuhause. Mein Mann hat seine Aggressionen an mir und meinem älteren Kind ausgelassen. Ich kann die Kinder deswegen tagsüber nicht mehr mit meinem Mann allein lassen.»

Frauen in Entscheidungsprozesse einbinden

Frauen müssen in der Lage sein, aktiv an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen teilzuhaben, um zu gewährleisten, dass ihre speziellen Bedürfnisse und Sichtweisen in Gesetzen, Politik und Praxis berücksichtigt und erfüllt werden.

Amnesty International ruft zu einer konzertierten Aktion vonseiten der internationalen Gemeinschaft auf, um die sinnvolle Teilhabe von Frauen an Entscheidungsprozessen zu gewährleisten, angefangen von internationalen Beratungen über Finanzhilfen, Entschädigungszahlungen und Wiederaufbaumassnahmen bis hin zur Bereitstellung von humanitärer Hilfe und Gerichtsverfahren für Opfer und Überlebende des russischen Angriffskriegs. Nur durch die Einbeziehung von Frauen auf allen Ebenen können wir gewährleisten, dass die Bedürfnisse von Frauen erfüllt, gewahrt und priorisiert und die Rechte von Frauen respektiert, geschützt und umgesetzt werden.

*Namen zum Schutz der Identität geändert