© Amnesty International
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Interview mit Júlia Iván, Leiterin von Amnesty Ungarn «Ungarn hat das Asylsystem systematisch zerstört»

26. September 2017
Ungarn und Polen haben sich als einzige EU-Staaten bisher geweigert, geflüchtete Menschen aus Griechenland oder Italien aufzunehmen. Nun hat der Europäische Gerichtshof sie zur Aufnahme im Rahmen des Umverteilungsprogramms verpflichtet. Júlia Iván, Leiterin von Amnesty Ungarn, begrüsst die Entscheidung.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Ungarn und die Slowakei zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet. Welche Position vertritt Amnesty Ungarn in Bezug auf das Urteil?

Wir haben nichts anderes erwartet. Solidarität ist ein Grundpfeiler des europäischen Asylrechts. Wenn die EU zugelassen hätte, dass Staaten wie Ungarn oder die Slowakei sich einfach verweigern, wäre das das Ende eines gemeinsamen Asylsystems gewesen. Das Dublin-Abkommen ist gescheitert. Jetzt müssen die EU-Staaten verstehen, dass Verantwortung gerecht geteilt werden muss. Wir begrüssen die Entscheidung und bedauern die Reaktion der ungarischen Regierung, die sich weigert, das Urteil zu akzeptieren.

Wie ist die Stimmung in der ungarischen Gesellschaft?

Ich fürchte, dass viele Menschen die Propaganda der Regierung glauben. Die behauptet, dass Brüssel versucht, Personen in Ungarn anzusiedeln, die gefährlich sind, und uns diktiert, mit wem wir zusammenleben sollen. Ohnehin ist die Xenophobie in Ungarn weiter verbreitet denn je. Viele Menschen sind aktiv gegen Migranten und Flüchtlinge. Es gibt eine grosse Mehrheit, die Geiseln der Regierungspropaganda sind.

Ungarn soll nun 1249 geflüchtete Menschen aufnehmen. Was würde es für diese Menschen bedeuten, in einem Land zu leben, wo weder Regierung noch Gesellschaft sie akzeptieren?

Es wäre wohl wirklich schwierig für sie. Das grösste Problem ist, dass Ungarn - im Gegensatz zu anderen EU-Staaten – das Asylsystem in den vergangen zwei Jahren systematisch abgebaut und zerstört hat. Vor 2015 gab es ein System, das Flüchtlinge bei der Integration unterstütze. Das gibt es nicht mehr. Es wäre also eine grosse Herausforderung für die 1249 Personen, hier zu leben. Auf der Mikroebene hingegen gibt es Flüchtlinge, die seit Jahren in Ungarn leben, die die Sprache können und hart arbeiten. Es gibt also natürlich auch Erfolgsgeschichten, aber die Stimmungsmache der Regierung ist so laut, dass niemand etwas anderes hört. Ich glaube, es ist eine Herausforderung für alle europäischen Staaten, diese Erfolgsgeschichten publik zu machen, um ein ausgeglichenes Bild zu vermitteln, in dem es nicht nur gut und böse gibt.

Júlia Iván (34) ist Menschenrechtsanwältin und seit Januar 2017 Leiterin der ungarischen Sektion von Amnesty International in Budapest.