Haben Sie in Belarus Angehörige von zum Tod verurteilten Menschen kennengelernt?
Heather McGill: Ja, ich traf Angehörige und auch junge Männer, die ursprünglich die Todesstrafe erhalten hatten, deren Urteile aber revidiert wurden. Besonders schockiert war ich, als ein junger Mann, Andrei Zhuk, im vergangenen März hingerichtet wurde. Seine Eltern hofften, dass Präsident Lukaschenko ihn begnadigen würde. Doch als die Mutter an einem Freitag das wöchentliche Essenspaket ins Gefängnis bringen wollte, schickten die Wärter sie weg. Sie musste davon ausgehen, dass Andrei und sein Zellengenosse hingerichtet worden waren. Doch erst Tage später bestätigten ihr das die Gefängnisbeamten. Die offizielle Meldung kam erst im Juni.
Wann sind die letzten Hinrichtungen geschehen?
Wir vermuten, dass es im Juli zwei Hinrichtungen gab – aber das ist nach wie vor nicht gesichert. Die Mutter des einen Gefangenen hat dessen Sachen erhalten, sogar seine Brille. Doch die Eltern klammern sich an die Hoffnung, dass die beiden Männer vielleicht noch leben. Die Ungewissheit vergrössert das Leiden der Angehörigen. Sie dürfen zudem keine Beerdingung durchführen.
Warum kann sich die Todesstrafe in Belarus noch halten?
In Belarus herrschen unter Präsident Lukaschenko immer noch Zustände wie vor 20 Jahren. Er will die Sowjetunion bewahren. In Nachbarländern wie Ukraine oder Moldawien gab es zumindest Reformversuche für das Rechtssystem. Belarus hat keinerlei Reformen unternommen. Die Todesstrafe wird gleich ausgeführt wie zu Sowjetzeiten, mit einem Schuss in den Hinterkopf. Auch die Geheimhaltung geht auf die Sowjetunion zurück. Amnesty International kritisiert diese Geheimhaltung schon seit langem.
Wieso macht das Regime um die Todesstrafe ein Geheimnis?
Es werden einfach die alten Gewohnheiten aufrecht erhalten. In der Sowjetunion lag es wohl daran, dass es oft um politische Hinrichtungen ging. Darüber sollte nichts bekannt werden, sonst hätte es ja Proteste oder Demonstrationen geben können.
Wie kann Amnesty International in dieser Situation Informationen sammeln?
Von der Regierung erhalten wir keine klaren Informationen. Deshalb sprechen wir mit den Angehörigen und lesen die Zeitungen. Ausserdem stehen wir in engem Kontakt mit lokalen Organisationen.
Sind Leute, die sich gegen die Todesstrafe äussern, selber gefährdet?
Wahrscheinlich weniger als jene, die sich für die Freilassung von Gewissensgefangenen einsetzen. Aber in Belarus sind grundsätzlich alle in Gefahr, die öffentlich eine abweichende Meinung äussern.
Ist die Justiz in Strafsachen unabhängig; gibt es faire Verfahren?
Nein, wir können nicht von unabhängigen Gerichten sprechen. Gefangene werden mit zum Teil massiver Gewalt zu falschen «Geständnissen» gezwungen. Die Regierung macht grossen Druck auf Polizei und Justiz, Verbrechen möglichst schnell zu aufzuklären. So entsteht das Risiko, dass die Beamten Geständnisse erzwingen wollen – egal auf welche Weise.
Wie stehen die Chancen, dass Präsident Lukaschenko den Forderungen von Amnesty nachkommt und die Todesstrafe abschafft?
Ich muss zugeben, wir waren vor einigen Jahren optimistischer als jetzt. Eigentlich wäre es für die Regierung eine einfache Sache – wenn Lukaschenko die Anweisung gibt, kann die Todesstrafe jederzeit abgeschafft werden. Aber die Regierung ist sehr zurückhaltend und sagte, sie müsse ein Referendum abhalten.
Wie ist die öffentliche Meinung zur Todesstrafe?
Die Bevölkerung ist schlecht informiert. Bei unserem letzten Besuch haben wir eine Strassenumfrage durchgeführt. Die Mehrheit der Leute dachte, dass es in Belarus keine Todesstrafe gebe, dass es aber wünschenswert wäre, sie einzuführen. Wir informieren deshalb die Öffentlichkeit über die Todesstrafe und über die Umstände, in denen sie vollstreckt wird. Wir versuchen ausserdem, die orthodoxe Kirche zu involvieren.
Eine Frage zum Schluss: Warum setzt sich Amnesty International so stark gegen die Todesstrafe in Belarus ein?
Das werde ich manchmal von anderen Organisationen, die sich etwa für die Meinungsfreiheit in Belarus einsetzen, auch gefragt. Sie sagen: Letztes Jahr wurden nur zwei Männer hingerichtet – das sind ja etwa im Vergleich zu den USA sehr wenige. Doch die Todesstrafe und die Art, wie sie ausgeführt wird, zeigt die Brutalität des Regimes in Belarus. Es missachtet die menschliche Würde total. Ich finde es schrecklich, dass dies in Europa geschieht – unmittelbar an der Grenze zur Europäischen Union!
Heather McGill ist Weissrussland-Expertin bei Amnesty International.