AMNESTY: Die Beleidigung des Präsidenten steht unter Strafe und auch öffentliches Fluchen. Wie offen können Sie überhaupt reden?
Ales Bialiatski: Wir können offen reden, wir fluchen ja nicht über den Präsidenten.
Welche Rolle spielen diese Gesetze im Alltag?
Tatsächlich verbietet das Strafgesetzbuch, den Präsidenten zu beleidigen – es droht Haft dafür. Der Paragraf wird aber nicht oft angewendet, er soll eher einschüchtern. Öffentliches Fluchen ist eine Ordnungswidrigkeit. Man wird verhaftet und die Behörden sagen: «Du hast geflucht!» Insbesondere im Vorfeld der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 landeten mit dieser Begründung viele Aktivistinnen und Aktivisten in Administrativhaft, die zuvor friedlich demonstriert hatten.
Einige Oppositionelle haben das Land verlassen. Bleiben Sie nach Ihrer fast dreijährigen Haft weiterhin in Belarus?
Weil sie akut gefährdet waren, haben einige oppositionelle Führungsfiguren das Land verlassen. Ihnen drohte Haft. Andere befinden sich in Straf- und Arbeitslagern. Die Schikanen der Regierung richten sich bewusst nur gegen bestimmte Personen. Äusserst selektiv Leute in die Ecke zu drängen, reicht völlig aus, um die gesamte Gesellschaft in Furcht zu versetzen. Ich werde aber bleiben, genauso wie die meisten anderen Aktiven.
Auch die von Ihnen geleitete Menschenrechtsorganisation Viasna arbeitet weiter. Gehen Sie von weiteren Repressalien aus?
Viasna wird gegenwärtig nicht offen angegangen – ungeachtet der Tatsache, dass die Arbeit für eine offiziell nicht-registrierte Organisation jederzeit strafrechtlich verfolgt werden kann. Die weltweite Solidarität spielt daher für unsere Arbeit eine grosse Rolle. Gingen die Behörden gegen Viasna-Mitarbeiter vor, würde das viel Aufsehen erregen. Zu meinem Fall gab es vom Uno-Menschenrechtsausschuss einen Beschluss: Er besagt, dass ich zu Unrecht verurteilt wurde und dass Viasna zu Unrecht die Registrierung verlor. Der Regierung ist das einerlei, uns aber verschaffen diese Nuancen einen gewissen Sicherheitspuffer.
Wie waren Ihre Haftbedingungen?
Insbesondere während der Untersuchungshaft waren die Bedingungen miserabel. Die Zellen waren überfüllt, es gab kaum Licht, die Fenster waren verriegelt, die Luft stickig. Zwei Monate hatte ich permanent Kopfschmerzen, weil mir frische Luft fehlte. Danach hat sich mein Körper scheinbar daran gewöhnt. Auch das Essen war schlecht: Brot, Brot und wieder nur trockenes Brot. Wenn es Brei gab, war das nur in Wasser gekochtes Getreide – keine Spur von Öl, Butter oder Salz. Und alles, was über Brot, Brei und dünnen Tee hinausgeht, muss man sich selbst beschaffen. Weil ich angeblich die Anstaltsordnung verletzt habe, durfte ich ein Jahr lang jedoch keine Lebensmittelpakete von draussen bekommen und auch mein Zugang zum kleinen Laden in der Haftanstalt wurde eingeschränkt. Der erste Apfel nach zehn Monaten war ein unglaubliches Ereignis. Als mir aber klar geworden war, dass das schlechte Essen eine Methode war, um Druck auf mich auszuüben, kam ich auch prima mit Brot und Brei aus. Schlimmer waren die Krankheiten. Wenn so viele Menschen auf engem Raum leben, wird man leicht krank: Mithäftlinge hatten Krätze oder Tuberkulose; aber auch schon eine Grippe bereitete ernste Probleme, denn es dauerte lange, bis man irgendwie an Medikamente kam.
Hatten Sie Kontakt zu Mithäftlingen oder zu Ihrer Familie?
Heimlich unter vier Augen konnte ich im Gefängnis reden. Manche Häftlinge arbeiteten allerdings mit der Anstaltsleitung zusammen und provozierten gewisse Situationen. Für die Familie gab es drei kurze und zwei längere Besuche pro Jahr: Die kurzen bedeuteten zwei Stunden getrennt durch eine Glasscheibe, die längeren – ein bis drei Tage in einer Art Pension auf dem Anstaltsgelände. Ein Jahr sah ich meine Frau allerdings überhaupt nicht. Wegen vermeintlicher Verstösse wurden die Besuche gestrichen, oft ganz kurz vor dem anvisierten Termin.
Nach den Wahlen 2010 ging Präsident Alexander Lukaschenko so brutal gegen Oppositionelle vor wie kaum zuvor. Ende des Jahres stehen wieder Wahlen an, womit rechnen Sie?
Bei Wahlen wächst das Engagement der Leute und damit wächst immer auch die Repression.
Deutschland bildete belarussische Polizisten aus – was sagen Sie dazu?
Unsere Polizisten muss man nicht ausbilden. Sie werden letztendlich doch nur Demonstrierende verprügeln.
Welche Menschenrechte sind besonders in Gefahr?
Äusserst finster sieht es bei der Versammlungsfreiheit aus. Von landesweit Hunderten beantragten, demokratischen Demonstrationen wurden 2014 sechs genehmigt – allerdings nicht am eigentlichen Ort, sondern in menschenleeren Gegenden, etwa in Parkanlagen voller Eichhörnchen: Das ist so, als würden in Berlin die Leute im Grunewald demonstrieren.
Seit Beginn der Ukraine-Krise wird Belarus auf politischer Ebene verstärkt als Vermittlungsinstanz einbezogen. Hat dies Einfluss auf die Menschenrechtssituation?
Der Konflikt um die Ostukraine hat sich auf die Menschenrechtssituation in der ganzen Region negativ ausgewirkt. Wenn Menschen in bewaffneten Konflikten sterben, dann sinkt der Wert der Menschenrechte. Das ist auch in Belarus deutlich spürbar. Was die Diplomatie betrifft, ist Belarus keineswegs so neutral, wie es scheinen mag. Lukaschenko stuft Russland als strategischen Partner ein, auch wenn es einzelne Streitpunkte gibt. Belarus ist seit Jahresanfang auch Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion. Hier hat sich eine Gruppe autoritärer Staaten zusammengetan. Die Frage der Menschenrechte steht dabei vielleicht an 35. Stelle.
Sie sind gegenwärtig viel unterwegs und treffen europaweit Vertreter aus Politik und Gesellschaft. Was erhoffen Sie sich von EU-Gremien und NGOs wie Amnesty?
Das Engagement von Amnesty ist mir sehr sympathisch, es ist eine warmherzige und wertvolle Solidarität, die zu spüren ist. Meine Erwartung ist, dass ihr weitermacht.
Interview: Andreas Koob, aus dem Amnesty Journal Nr. 06/07 der deutschen Sektion
Juni 2015