Ägypten Militärrat regiert mit Mubaraks Methoden

In einem neuen Bericht wirft Amnesty International dem herrschenden Militärrat in Ägypten weitreichende Menschenrechtsverletzungen vor. In einigen Bereichen gehen die Übergriffe über das hinaus, was während der Ära Mubarak Alltag war. Wie wenn es eines weiteren Beweises für die düstere Menschenrechtsbilanz der Generäle bedurft hätte, sind die Sicherheitsorgane in den letzten Tagen erneut mit äusserster Brutalität gegen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz vorgegangen.

Wenige Tage vor der geplanten – und in Anbetracht der jüngsten Ereignisse fraglichen – ersten Runde der Parlamentswahlen dokumentiert die Menschenrechtsorganisation in dem Bericht Broken Promises: Egypt’s Military Rulers Erode Human Rights die ernüchternde menschenrechtliche Bilanz. Die Verantwortung dafür trägt der Militärrat, der seit dem Sturz Präsident Mubaraks die Staatsmacht übernommen hat. «Mit der Aburteilung Tausender von Zivilpersonen vor Militärgerichten, mit der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten und der Ausweitung der Notstandsgesetze hat der Militärrat die repressiven Praktiken der Ära Mubarak fortgesetzt », sagte Reto Rufer, Länderkoordinator bei Amnesty International.

Die menschenrechtliche Bilanz nach neun Monaten zeigt, dass der Militärrat die Hoffnungen der Demokratie- und Freiheitsbewegung des 25. Januars verraten hat: Der Rat hat nur wenige seiner Versprechungen gehalten. Stattdessen räumte er im August 2011 ein, dass rund 12'000 Personen vor Militärgerichten abgeurteilt worden sind. Amnesty International betrachtet diese Prozesse als unfair. Mindestens 13 Personen wurden zum Tode verurteilt.

Demonstrationen gewaltsam aufgelöst

Nach dem Sturz Mubaraks hatte der Militärrat versprochen, seine Macht dazu zu gebrauchen, «Demonstrierende ungeachtet ihrer Auffassungen zu schützen». In Tat und Wahrheit haben die Sicherheitsorgane, einschliesslich des Militärs, mehrere Demonstrationen gewaltsam aufgelöst und dabei Tote und Verletzte hinterlassen.

Am 9. Oktober sind in Maspero 28 Personen getötet worden, als die Sicherheitskräfte eine Demonstration koptischer Christen mit grosser Brutalität aufgelöst haben. Ärzte sagten gegenüber Amnesty International aus, dass die Opfer Schussverletzungen aufwiesen. Andere wurden von gepanzerten Armeefahrzeugen mit grosser Geschwindigkeit überfahren. Anstatt eine unabhängige Untersuchung zu veranlassen, hat die Armee angekündigt, die Vorfälle selbst zu untersuchen. In der Folge ging sie rasch daran, jede Kritik an ihrem Handeln zu unterdrücken.

Folter an der Tagesordnung

Amnesty International verfügt über verlässliche Hinweise, dass die Sicherheitsorgane bei der Niederschlagung von Protesten auf bewaffnete Banden, die so genannten «Baltagiya», zurückgegriffen haben. Dies ist eine Praxis, die bereits unter dem Regime Mubarak bekannt und weit verbreitet war. Auch Folter in Gewahrsam des Militärs und der Polizei ist weiterhin an der Tagesordnung. Die Menschenrechtsorganisation hat mit mehreren Personen gesprochen, die berichten, in Militärhaft gefoltert worden zu sein.

Im September gelangte ein Video an die Öffentlichkeit, das zeigte, wie Militär- und Polizeioffiziere zwei Häftlinge schlugen und mit Elektroschocks traktierten. Nach der Untersuchung über den Fall hat die Militärpolizei das Video ohne weitere Erklärung als Fälschung bezeichnet.

Berüchtigte «Jungfräulichkeitstests»

Die Praxis der Straflosigkeit für Folter und Misshandlung geht weiter, zumal kein anderer Fall bekannt ist, in dem ein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen worden wäre. So hatte der Militärrat am 28. März angekündigt, die zwangsweise Anordnung von «Jungfräulichkeitstests» zur Einschüchterung von 17 Demonstrantinnen untersuchen zu lassen. Stattdessen ist bisher die Frau, die deswegen Klage gegen den Militärrat eingereicht hat, eingeschüchtert und bedroht worden.

Bei einem Treffen mit Vertretern des Militärrats im Juni verlangte der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty, die Aufhebung des seit 1981 bestehenden Ausnahmezustands, der bestimmte Grundrechte massiv einschränkt. Im September beschloss der Militärrat die Ausweitung der Notstandsgesetze. Darunter fallen die Störung des Verkehrs, die Blockierung von Strassen, die Verbreitung von Gerüchten oder «Angriffe auf die Arbeitsfreiheit». Personen, die in Anwendung der Notstandsgesetzte verhaftet werden, fallen unter die Gerichtsbarkeit des Obersten Staatssicherheitsgerichts.

«Die ägyptische Armee kann nicht länger die Sicherheit zum Vorwand nehmen, um die repressiven Praktiken der Ära Mubarak aufrecht zu erhalten», sagte Reto Rufer. «Wenn es dem Militärrat ernst ist mit dem Wandel, dann müssen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt, den Ausnahmezustand aufgehoben und die Aburteilung von Zivilpersonen durch Militärgerichte gestoppt werden.»

Medienmitteilung veröffentlicht: 22. November 2011, Zürich/London
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