Im Bericht Permanent State of Exception deckt Amnesty International auf, wie die Anklagebehörde der Staatssicherheit – eine Sonderabteilung der Staatsanwaltschaft, die für die Untersuchung nationaler Sicherheitsbedrohungen zuständig ist – sich an Verschwindenlassen, willkürlichem Freiheitsentzug, Folter und anderer Misshandlung beteiligt. Sie hat Tausende von Menschen aus fadenscheinigen Gründen über einen längeren Zeitraum festgehalten und missachtet immer wieder die Rechte der Häftlinge auf ein faires Verfahren.
«Die Anklagebehörde ist zu einem zentralen Instrument der Repression geworden, dessen Hauptziel es zu sein scheint, Kritiker willkürlich festzunehmen.» Philip Luther, Experte für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International
«In Ägypten bedient sich die Anklagebehörde der Staatssicherheit aktuell einer erweiterten Definition des Begriffs ‚Terrorismus‘. Diese schliesst friedliche Proteste, Beiträge in sozialen Medien und legitime politische Aktivitäten ein, was dazu führt, dass friedliche Regierungskritiker und -kritikerinnen als Staatsfeinde behandelt werden. Die Anklagebehörde ist zu einem zentralen Instrument der Repression geworden, dessen Hauptziel es zu sein scheint, Kritiker willkürlich festzunehmen und einzuschüchtern, und das alles im Namen der Terrorbekämpfung», so Philip Luther, Experte für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
Der Bericht von Amnesty International dokumentiert Dutzende Fälle von Menschenrechtsaktivisten und friedlichen Kritikerinnen der Regierung, die vor die Anklagebehörde der Staatssicherheit gebracht wurden.
Aufstieg der Anklagebehörde
Seit dem Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Jahr 2013 hat sich die Zahl der von der Anklagebehörde der Staatssicherheit verfolgten Fälle fast verdreifacht – von rund 529 Fällen im Jahr 2013 auf 1739 im Jahr 2018.
Die rasante Zunahme an Verfahren der Anklagebehörde ermöglichte es den Behörden, Verdächtige während der Ermittlungen offiziell in «Untersuchungshaft» zu nehmen. In Wirklichkeit werden viele von ihnen jedoch auf der Grundlage geheimpolizeilicher Ermittlungen und ohne Rückgriff auf wirksamen Rechtsbehelf monate- und jahrelang ohne Beweise festgehalten. Auf diese Weise konnten die Behörden die Praxis der langen Verwaltungshaft fortsetzen, wie sie unter der Notstandsgesetzgebung in der Ära Mubarak in Ägypten gang und gäbe war, bis ein Urteil des Obersten Verfassungsgerichts von 2013 die entsprechende Bestimmung für verfassungswidrig erklärte.
Die Anklagebehörde der Staatssicherheit hat sich zusammen mit dem nationalen Sicherheitsdienst, einer Sondereinheit der Polizei, und Gerichten für die Terrorbekämpfung zu einem parallelen Justizsystem entwickelt, in dem friedliche DissidentInnen festgenommen, verhört und vor Gericht gestellt werden. «Die Rolle der Anklagebehörde der Staatssicherheit ist Zeichen eines permanenten Ausnahmezustandes, in dem die Rechte auf Freiheit und ein faires Gerichtsverfahren sowie auf Freiheit von Folter für alle Personen ausgesetzt werden, die unter ‚Terrorverdacht‘ stehen», so Philip Luther.
Der Bericht von Amnesty International dokumentiert 138 Fälle zwischen 2013 und 2019, in denen die Anklagebehörde der Staatssicherheit Inhaftierungen anordnete. Er beruht auf mehr als 100 Interviews sowie Prüfungen offizieller Gerichts- und Polizeiakten, Krankenakten, Videos und Berichten von NGOs und UN-Behörden.
Wenn man die untersuchten Fälle aufschlüsselt, ergibt sich folgendes Bild: 56 Personen wurden wegen ihrer Teilnahme an Protesten oder wegen ihrer Äusserungen in sozialen Medien festgenommen, 76 aufgrund ihrer politischen oder menschenrechtlichen Aktivitäten oder ihres Hintergrunds und sechs wegen der vermeintlichen Beteiligung an Gewalttaten.
Viele der Betroffenen wurden nur auf der Grundlage von geheimpolizeilichen Ermittlungen festgehalten.
Gegen die meisten wurde wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt oder wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung oder einer anderen illegalen Gruppierung mit dem Ziel, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit zu stören. In der Praxis wurden viele der Betroffenen jedoch nur auf der Grundlage von geheimpolizeilichen Ermittlungen festgehalten, die laut eines Urteils des Obersten Gerichtshof Ägyptens im Jahr 2015 jedoch nicht allein als Beweismittel ausreichen. In anderen Fällen wurden Menschen aufgrund von Online-Inhalten inhaftiert, in denen die ägyptischen Behörden zwar kritisiert wurden, die jedoch nicht den Tatbestand einer terroristischen Handlung erfüllten.
Willkürliche Inhaftierung über lange Zeiträume
Der Bericht hebt hervor, dass die Anklagebehörde der Staatssicherheit routinemässig die Sonderrechte missbraucht, die ihr nach ägyptischem Recht zustehen. Diese Rechte, die gewöhnlich dem Gericht vorbehalten sind, ermöglichen es ihr, gegen Straftatverdächtige eine verlängerte Untersuchungshaft von bis zu 150 Tagen anzuordnen. Häftlinge können ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung beantragen, doch liegt die Entscheidung, welche Fälle vor Gericht und nicht vor der Anklagebehörde gehört werden, im Ermessen der Anklagebehörde.
Häftlinge befanden sich durchschnittlich 345 Tage Untersuchungshaft, bevor sie ohne Gerichtsverfahren freigelassen wurden.
Wie die Ermittlungen von Amnesty ergaben, befanden sich Häftlinge durchschnittlich 345 Tage, in einem Fall sogar 1263 Tage in Untersuchungshaft, bevor sie ohne Gerichtsverfahren freigelassen wurden. In dieser Zeit wurden die Gefangenen selten mehr als einmal befragt.
Beteiligung an Folter und Verschwindenlassen
Der Bericht von Amnesty International zeigt auch, dass die Anklagebehörde des Staatssicherheitsdienstes an Fällen von Verschwindenlassen und Folter beteiligt ist. Sie vernachlässigt systematisch die Untersuchung von Vorwürfen über Folter oder Verschwindenlassen und lässt «Geständnisse», die durch Folter erzwungen wurden, als Beweismittel vor Gericht zu. In einigen Fällen wurden die Angeklagten anschliessend zum Tode verurteilt und auf der Grundlage dieser Beweise hingerichtet.
Der Bericht dokumentiert 112 Fälle von Verschwindenlassen über Zeiträume von bis zu 183 Tagen durch Sicherheitskräfte, hauptsächlich durch den nationalen Sicherheitsdienst.
Die Anklagebehörde der Staatssicherheit klärt Angeklagte systematisch nicht über ihre Rechte auf, verweigert ihnen den Zugang zu Rechtsbeiständen und unterzieht sie Befragungen.
Die Anklagebehörde der Staatssicherheit klärt Angeklagte systematisch nicht über ihre Rechte auf, verweigert ihnen den Zugang zu Rechtsbeiständen und unterzieht sie Befragungen, bei denen sie unter Druck gesetzt werden und ihnen unter anderem die Augen verbunden waren. Sie hat Angeklagte unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und ihnen mit Folter und Verhör durch den nationalen Sicherheitsdienst gedroht.
«Es ist empörend, dass eine Institution, deren Aufgabe es ist, rechtliche Schritte einzuleiten, um für Gerechtigkeit zu sorgen, so unverhohlen ihre Verantwortung für die Gewährleistung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren missachtet und sich stattdessen an der Folter und dem Verschwindenlassen von Gefangenen beteiligt», sagt Philip Luther. «Die Behörden müssen eine öffentliche Kommission ins Leben rufen, um die Rolle der Anklagebehörde der Staatssicherheit bei verlängerten Inhaftierungen, Verstössen gegen das Recht auf ein faires Verfahren und bei der Beteiligung an polizeilichem Missbrauch zu untersuchen.»
Terrorverdacht als Vorwand für hartes Vorgehen
Vor zwei Monaten reagierten die ägyptischen Behörden auf den seltenen Ausbruch von Protesten mit einer massiven Inhaftierungswelle, bei der in wenigen Wochen mehr als 4000 Personen, die meisten davon willkürlich, festgenommen wurden. Die Anklagebehörde der Staatssicherheit hat in der überwiegenden Mehrheit dieser Fälle wegen der angeblichen Beteiligung an Protesten und Anschuldigungen im Zusammenhang mit «Terrorismus» ermittelt.
«Auf globaler Ebene haben die ägyptischen Behörden versucht, ihr hartes Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit dadurch zu rechtfertigen, dass sie behaupteten, sie würden gegen ‚Terroristen‛ vorgehen. In Wirklichkeit jedoch betrachten sie selbst friedliche Opposition als ‚Terrorismus‛. Die internationale Gemeinschaft darf sich von dieser irreführenden Rhetorik nicht täuschen lassen», so Philip Luther.