Durch den Konflikt im Nordirak wurden Hunderttausende von Zivilpersonen vertrieben. © AI
Durch den Konflikt im Nordirak wurden Hunderttausende von Zivilpersonen vertrieben. © AI

Verbrechen von ISIS und der Armee Irak: Kein Ende der Gewalt in Sicht

14. Juli 2014
Die Eroberung von Mossul, der zweitgrössten irakischen Stadt, und anderer Städte und Dörfer im Nordwesten des Landes durch die bewaffnete Gruppierung Islamischer Staat für den Irak und Syrien (ISIS) Anfang Juni führte zu erneuten dramatischen Spannungen zwischen den Religionsgruppen der Schiiten und der Sunniten. Ausserdem kam es zu massiven Vertreibungen der Bevölkerung, die sich vor Angriffen und Vergeltungsmassnahmen fürchtet.

Nahezu die gesamte nicht-sunnitische Bevölkerung der Städte Mossul, Tal 'Afar und angrenzender Regionen, die unter die Kontrolle von ISIS gebracht wurden, ist nach Tötungen, Entführungen, Drohungen und Zerstörungen ihres Eigentums und ihrer Gotteshäuser geflohen. Der Amnesty-Bericht «Northern Iraq: Civilians in the line of fire» dokumentiert die von ISIS und der irakischen Armee begangenen Kriegsverbrechen.

Bisher scheint ISIS nicht die gesamte Bevölkerung im Visier zu haben, sondern nur die schiitischen Muslime und deren Heiligtümer, was zu Angst und Panik unter der schiitischen Bevölkerung geführt hat.

Es kam zu einer Massenvertreibung von schiitischen Muslimen sowie Angehörigen anderer Minderheiten wie Christen und Jesiden. Aber auch Angehörige sunnitischer Gruppen flohen aus der Region. Wer sich gegen ISIS gewandt haben sollen, Angehörige der Sicherheitskräfte, Staatsbedienstete und diejenigen, die zuvor mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet hatten, fühlten sich nicht mehr sicher. Oftmals waren sie selbst oder Familienangehörige zuvor von ISIS angegriffen worden.

Kriegsverbrechen dokumentiert

Im Rahmen einer zweiwöchigen Ermittlungsreise im Nordirak besuchte die Amnesty-Krisenbeauftragte Donatella Rovera die Städte Mossul, Kirkuk, Dohuk, Erbil, angrenzende Städte und Dörfer und Flüchtlingslager in Al-Khazer und Garmawa. Sie dokumentierte von ISIS und der irakischen Armee begangene Kriegsverbrechen.

Sie sprach mit Überlebenden und Angehörigen der Opfer der von ISIS, Regierungstruppen und alliierten Streitkräften verübten Angriffe. Ausserdem traf sie sich mit Zivilpersonen, die durch den Konflikt vertrieben worden sind, Angehörigen und Vertretern von Minderheiten, Religionsführern, örtlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, internationalen Flüchtlingsorganisationen und Militärführern der Peshmerga. Alle in dem Bericht aufgeführten Interviews wurden im Rahmen dieser Ermittlungsreise durchgeführt.

«Schon wieder sind irakische Zivilisten in einer Spirale der Gewalt zwischen Angehörigen religiöser Gruppen gefangen. Hunderte von Menschen sind aus ihren Häusern geflohen aus Angst vor Entführungen und Tötungen durch ISIS und Luftangriffen durch Regierungsstreitkräfte. Das Völkerrecht wird völlig missachtet», sagte Donatella Rovera. «Entführungen und Tötungen werden genützt, um Gegner zu vernichten und Zivilpersonen einzuschüchtern.»

Verstümmelte Leichen

Donatella Rovera interviewte Familienangehörige eines 18-jährigen Mannes aus dem östlich von Mossul gelegenen Gogjali und seines 44-jährigen Onkels. Beide wurden am 20. Juni an einem ISIS-Kontrollpunkt entführt und später getötet. Die Mutter des jungen Mannes fand ihre verstümmelten Leichen zwei Tage später. Auf den Fotos, die sie Donatella Rovera zeigte, sind zwei Köpfe abgebildet, die mit schweren Gegenständen eingeschlagen wurden. Die Hände der Opfer sind hinter ihren Rücken zusammengebunden. Einem der beiden wurde die Kehle durchgeschnitten und der Körper teilweise verbrannt. Die Familie, die der Religionsgemeinschaft der Schiiten angehört, ist unmittelbar nach diesem Vorfall aus Gogjali geflohen.

«ISIS fällt nach wie vor in nordirakische Dörfer ein, die seit dem Abrücken der irakischen Streitkräfte vor einem Monat nicht mehr geschützt sind. Diese bewaffnete Gruppierung terrorisiert die nicht-sunnitische Bevölkerung im ganzen Land, was zu einer Massenvertreibung führt, da die Menschen um ihr Leben bangen», sagt Donatella Rovera.

Der jüngste Konflikt erfolgt vor dem Hintergrund jahrelanger Spannungen und Gewalt zwischen den irakischen Sunniten und Schiiten.

Racheakte von schiitischen Streitkräften

Nicht nur ISIS ist für die begangenen Kriegsverbrechen verantwortlich. Die von Amnesty International gesammelten Beweise zeigen, dass mehr als 100 sunnitische Häftlinge aus Rache von Regierungstruppen und schiitischen Streitkräften kaltblütig umgebracht worden waren, bevor diese vor Ankunft der ISIS-Streitkräfte aus den Städten Tal 'Afar, Mossul und Baquba abgezogen sind. Eine Frau berichtete Amnesty International von den schlimmen Verletzungen eines Angehörigen - einer der Häftlinge, die in einem Gefängnis in Tal 'Afar getötet wurden: «Man schoss ihm mehrere Male in den Kopf und in die Brust. Sein Körper war blutüberströmt, aber man wusste nicht, ob es sein eigenes war oder das von Mitgefangenen, die über und unter ihm lagen.»

«Auf beiden Seiten, die sich in einem Teufelskreis zunehmender Gewalt befinden, wurden im Irak Kriegsverbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Die Sicherheit der Zivilbevölkerung muss oberste Priorität haben. Beide Seiten müssen aufhören, Gefangene zu töten und damit anfangen, diese menschlich zu behandeln. Zudem müssen sie wahllose Angriffe wie Artilleriebeschuss und ungelenkte Luftangriffe auf dichtbesiedelte Gebiete unterlassen», sagt Donatella Rovera.

Vertreibung

Durch den Konflikt im Nordirak wurden Hunderttausende von Zivilpersonen vertrieben. Sie flohen in angrenzende kurdische Gebiete, die unter kurdischer Verwaltung stehen (Kurdistan Regional Government - KRG). Kürzlich schränkte die KRG den Zugang zu ihren Gebieten für nicht-kurdische Iraker, die vor Gewalt fliehen, ein. Amnesty International wiederholt ihre Forderung an die KRG, den Flüchtlingen Zugang zu sicheren Gebieten zu gewähren.