Der Bericht mit dem Titel «The Condemned: Women and Children Isolated, Trapped and Exploited in Iraq» dokumentiert, wie Frauen in Lagern für Binnenvertriebene routinemässig von Sicherheitskräften, Angehörigen der Lagerverwaltung und Behördenvertretern diskriminiert werden, weil man ihnen Verbindungen zum IS vorwirft.
Experten von Amnesty International kamen zu dem Schluss, dass in jedem der acht besuchten Lager sexuelle Ausbeutung stattfindet.
«Der Krieg gegen den IS mag im Irak zu Ende sein, doch die irakische Bevölkerung leidet dort nach wie vor. Irakische Frauen und Kinder mit vermeintlichen Verbindungen zum IS werden für Verbrechen bestraft, die sie nicht begangen haben», so Lynn Maalouf, Direktorin der Rechercheabteilung Naher Osten bei Amnesty International.
«Diese Familien wurden aus ihrem sozialen Umfeld gestossen und wissen nicht, wohin sie gehen oder an wen sie sich wenden können. Sie sind ausgegrenzt und sitzen in Lagern fest, wo sie weder Wasser und Nahrungsmittel noch andere notwendige Güter erhalten. Es handelt sich hierbei um eine erniedrigende Form der Kollektivbestrafung, die Brutstätte für zukünftige Gewalt sein könnte. So kann keinesfalls der gerechte und tragfähige Frieden erreicht werden, den die irakische Bevölkerung benötigt und verdient.»
Der Amnesty-Bericht dokumentiert die Notlage von Tausenden Frauen, die mit ihren Familien in Lagern für Binnenvertriebene festsitzen, nachdem ihre männlichen Familienangehörigen entweder getötet oder bei der Flucht aus vom IS kontrollierten Gebieten in und um Mossul willkürlich festgenommen wurden bzw. dem Verschwindenlassen zum Opfer fielen.
In vielen Fällen ist das einzige «Verbrechen» dieser Männer, dass sie aus einer IS-Hochburg geflohen sind, einen ähnlichen Namen haben wie eine Person auf einer Fahndungsliste, oder dass sie als Koch oder Fahrer für den IS gearbeitet haben.
Isolation und sexuelle Ausbeutung
Der Bericht zeigt auf, dass im ganzen Land Frauen und Kinder in Lagern für Binnenvertriebene keinen Zugang zu Nahrung und Gesundheitsdiensten erhalten, weil ihnen Verbindungen zum IS vorgeworfen werden.
Diesen Familien werden zudem routinemässig Ausweispapiere und andere Dokumente vorenthalten, die sie zum Arbeiten und für ihre Bewegungsfreiheit benötigen. In mindestens einem Lager werden Familien mit vermeintlichen Verbindungen zum IS am Verlassen des Camps gehindert – de facto handelt es sich bei dem Lager um eine Hafteinrichtung.
Die Frauen sind verzweifelt und isoliert und einem hohen Risiko sexueller Ausbeutung durch Sicherheitskräfte, bewaffnete Wächter und Mitglieder von Milizen ausgesetzt. In allen acht Lagern, die von Amnesty-Experten besucht wurden, wurden Frauen unter Druck gesetzt bzw. gezwungen, sexuelle Beziehungen einzugehen, um im Gegenzug entweder Geld, humanitäre Hilfe oder männlichen Schutz zu erhalten.
Auch Vergewaltigung stellt eine grosse Bedrohung dar. Vier Frauen sagten Amnesty International, dass sie entweder eine Vergewaltigung beobachtet hatten oder Schreie aus einem benachbarten Zelt gehört hatten, als eine Frau von bewaffneten Männern, Angehörigen der Lagerverwaltung oder anderen Personen vergewaltigt wurde.
‚Dana‘, eine 20-jährige Frau, berichtete, dass sie bereits mehrere Vergewaltigungsversuche erlebt habe und ständig unter Druck gesetzt werde, mit einem Angehörigen der Sicherheitskräfte in ihrem Lager Sex zu haben. «Weil sie mich als IS-Kämpferin ansehen, wollen sie mich vergewaltigen und dann zurückbringen. Sie wollen allen zeigen, was sie mir antun können – und mir meine Ehre nehmen», sagte sie. «Ich fühle mich in meinem Zelt nicht sicher. Ich will einfach nur eine Tür zum Zusperren und Wände um mich herum... Jede Nacht sage ich mir: ‚Heute Nacht werde ich sterben‘.»
Viele der Frauen, mit denen Amnesty International gesprochen hat, fürchteten um ihre Sicherheit.
Kein Ausweg
In mehreren Gegenden haben die Lokalbehörden oder andere örtliche Sprecher die Anordnung erteilt, Frauen und Kinder mit vermeintlichen Verbindungen zum IS nicht zurückkehren zu lassen. Dies bedeutet, dass sie in den Lagern für Binnenvertriebene festsitzen.
Diejenigen, die dennoch zurückgekehrt sind, wurden oftmals vertrieben, ausgeraubt, bedroht, beleidigt, sexuell missbraucht oder sexuell belästigt. In einigen Fällen markierte man ihre Häuser mit dem Wort ‚Daeshi‘ (der arabische Begriff für den IS) und riss sie ab, oder man schnitt sie von der Strom- und Wasserversorgung oder anderen Leistungen ab.
Im Vorfeld der irakischen Parlamentswahlen im Mai hat die Regierung nun damit begonnen, über die Schliessung vieler Lager für Binnenvertriebene nachzudenken. Vertriebene werden daher aufgefordert, die Lager zu verlassen.
«Die irakischen Behörden müssen dafür sorgen, dass in den Lagern für Binnenvertriebene diejenigen Familien mit vermeintlichen Verbindungen zum IS genau denselben Zugang zu humanitärer Hilfe, Gesundheitsleistungen und zivilen Dokumenten erhalten. Diesen Familien muss die Heimkehr ermöglicht werden, ohne dass ihnen Einschüchterung, Festnahme oder tätliche Angriffe drohen», so Lynn Maalouf.
«Die Behörden müssen ausserdem umgehend die systematische und weit verbreitete Praxis des Verschwindenlassens von Männern und Jungen mit vermeintlichen Verbindungen zum IS beenden. Dadurch wurden Tausende Frauen und Kinder in eine verzweifelte Lage gebracht.
«Um den entsetzlichen Kreislauf der Marginalisierung und der Gewalt zwischen ethnischen und religiösen Gruppen zu beenden, unter dem der Irak bereits seit Jahrzehnten leidet, müssen die irakische Regierung und die internationale Gemeinschaft unbedingt die Rechte aller Menschen im Irak diskriminierungsfrei gewährleisten. Nur so besteht Aussicht auf nationale Aussöhnung und dauerhaften Frieden.»
Hintergrund
Der Bericht von Amnesty International basiert auf Interviews mit 92 Frauen in acht Lagern für Binnenvertriebene in den Regierungsbezirken (Gouvernements) Ninawa und Salah ad-Din. Zudem wurden Gespräche geführt mit 30 Angehörigen lokaler und internationaler NGOs, elf Lagerverwaltungsangehörigen, und neun Uno-Bediensteten bzw. ehemaligen Uno-Bediensteten.