Allein im Evin-Gefängnis in Teheran wurden zwischen dem 31. Dezember 2017 und dem 1. Januar 2018 423 Menschen inhaftiert. © Amnesty International
Allein im Evin-Gefängnis in Teheran wurden zwischen dem 31. Dezember 2017 und dem 1. Januar 2018 423 Menschen inhaftiert. © Amnesty International

Iran Vorgehen gegen Demonstrierende stoppen

4. Januar 2018
Amnesty International fordert die iranischen Behörden auf, das Recht auf friedlichen Protest sicherzustellen und Berichte zu untersuchen, nach denen Sicherheitskräfte rechtswidrig Schusswaffen gegen unbewaffnete Demonstrierende eingesetzt haben. Zudem müssen Hunderte von Gefangenen vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden.

Amnesty befürchtet eine weitere Verschärfung des Vorgehens der Behörden gegen Demonstrationen im Land. Offiziellen Angaben zufolge wurden seit dem 28. Dezember, als tausende Iranerinnen und Iraner auf die Strasse gingen, um gegen Armut, Korruption, politische Repressionen und ein autoritäres Regierungssystem zu protestieren, mindestens 22 Personen getötet, darunter zwei Angehörige der Sicherheitskräfte.

Sofortige Untersuchung gefordert

«Ordnungskräfte haben das Recht, sich selbst zu verteidigen, und die Pflicht, die Sicherheit der Öffentlichkeit zu schützen. Berichte über den Einsatz von Schusswaffen gegen unbewaffnete Demonstrierende durch Sicherheitskräfte sind jedoch zutiefst beunruhigend und wenn diese Berichte stimmen, würden sie gegen die Menschenrechtsverpflichtungen des Iran verstossen», so Philip Luther, Leiter der Abteilung Recherche und Lobbyarbeit für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

«Die iranische Regierung muss unverzüglich eine wirksame und unabhängige Untersuchung der Todesfälle und anderer Berichte über die exzessive und unnötige Anwendung von Gewalt in die Wege leiten, um all jene, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, zur Rechenschaft zu ziehen.»

In den sozialen und anderen Medien sind Videos und Augenzeugenberichte aufgetaucht, die die Polizei und andere Sicherheitskräfte bei der Anwendung unverhältnismässiger und unnötiger Gewalt zeigen, darunter auch der Einsatz von Schusswaffen oder Schlagstöcken gegen unbewaffnete Demonstrierende sowie von Tränengas und Wasserwerfern, um Demonstrationen aufzulösen. Amnesty International war es bislang nicht möglich, die Videos oder Zeugenberichte zu verifizieren.

Hunderte von Menschen von Folter bedroht

Mehr als 1000 Menschen wurden in der vergangenen Woche festgenommen und in Gefängnissen inhaftiert, in denen bekanntermassen Gefangene gefoltert und misshandelt werden. Vielen von ihnen wurde der Zugang zu ihren Familien und Rechtsbeiständen verwehrt.

Dem Presseverband Human Rights Activists News Agency zufolge registrierten die Behörden zwischen dem 31. Dezember 2017 und dem 1. Januar 2018 allein im Teheraner Evin-Gefängnis mindestens 423 Neuzugänge.

Viele der Inhaftierten werden vermutlich im überfüllten «Quarantänebereich» des Evin-Gefängnisses festgehalten, der nur 180 Personen Platz bietet.

Im «Quarantänebereich» werden die Gefangenen oft kurz nach der Festnahme festgehalten und vor der Überführung in die allgemeine Abteilung auf Drogen oder Infektionen überprüft. Einige Inhaftierte wurden in Bereiche des Gefängnisses verlegt, die den Revolutionsgarden oder dem Geheimdienst unterstehen.

«Die iranischen Behörden haben eine erschreckende Bilanz vorzuweisen, was willkürliche Massenfestnahmen friedlicher Demonstrierender anbetrifft. Angesichts des alarmierenden Ausmasses der gegenwärtigen Festnahmewelle ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich bei vielen der Inhaftierten um friedliche Demonstrierende handelt, die willkürlich festgenommen wurden und sich nun in Gefängnissen befinden, in denen die Bedingungen entsetzlich sind und Folter ein gängiges Mittel ist, um Geständnisse zu erzwingen und abweichende Meinungen zu bestrafen», erklärt Philip Luther.

«Die iranischen Behörden müssen dafür sorgen, dass alle Personen, die ausschliesslich wegen der friedlichen Teilnahme an Demonstrationen, des Ausdrucks der Unterstützung für die Demonstrationen oder der Kritik an den Behörden festgehalten werden, unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden. Alle Inhaftierten sind vor Folter und anderen Misshandlungen zu schützen.»

Wie es scheint, waren die meisten Demonstrationen friedlich, doch kam es zu vereinzelten Gewaltausbrüchen durch Demonstrierende in Form von Steinwürfen, Brandstiftung und anderen Sachbeschädigungen.

«Alle, die einer kriminellen Handlung verdächtigt werden, sollten unverzüglich wegen einer anerkannten Straftat angeklagt und in Verfahren, die den internationalen Standards für ein faires Gerichtsverfahren entsprechen, vor Gericht gestellt oder andernfalls freigelassen werden. Ausserdem müssen ihr Rechtsstatus und ihr genauer Aufenthaltsort ihren Familien sofort mitgeteilt werden», so Philip Luther.

Aggressive Rhetorik

Obwohl Präsident Hassan Rouhani den Demonstrierenden am 30. Dezember 2017 das Recht zusicherte, die Regierung zu kritisieren, deutete die anschliessende Rhetorik der Behörden auf ihre Bereitschaft hin, in einer zunehmend rücksichtsloseren Art und Weise auf die Unruhen zu reagieren.

Am 1. Januar forderte die Oberste Justizautorität des Iran, Sadegh Larijani, ein «strenges Durchgreifen» von «allen Staatsanwälten».

Am 2. Januar warnte der Leiter des Revolutionsgerichts in Teheran, Mousa Ghanzafar Abadi, dass das Innenministerium die Proteste für illegal erklärt habe, und alle, die sich weiterhin an Protesten beteiligten, mit schweren Strafen rechnen müssten. Er drohte damit, dass denjenigen, die die Proteste anführten und organisierten, «Feindschaft zu Gott» (moharebeh) vorgeworfen werden könnte, «da sie mit ausländischen Geheimdiensten in Verbindung stehen und deren Agenda umsetzen». Dieser Straftatbestand kann mit der Todesstrafe geahndet werden.

Am selben Tag beschuldigte das iranische Staatsoberhaupt, Ayatollah Sayed Ali Khamenei, die «Feinde des Landes», die Proteste zu schüren.

Am 3. Januar erklärte der iranische Minister für Informations- und Kommunikationstechnologie, Mohammad Javad Azari Jahromi, dass der populäre Social-Messaging-Dienst Telegram solange gesperrt bleiben würde, bis der Dienst sich dazu bereit erkläre, «terroristische Inhalte» zu entfernen. Der Geschäftsführer von Telegram erklärte, er habe die Aufforderung der Behörden abgelehnt, Kanäle zu schliessen, die die Proteste friedlich unterstützen. Auch die Social-Media-Anwendung Instagram bleibt im Iran vorderhand gesperrt.

Einschüchterungstaktik der Behörden

Neben der aggressiven Rhetorik der Behörden ist in staatlichen Medien eine Liste gesuchter Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer veröffentlicht worden. In dieser Liste wurden die Gesichter der Gesuchten gezeigt, verbunden mit einer Aufforderung an die Öffentlichkeit, diese zu identifizieren und den Behörden zu melden.

«Die Einschüchterung von Demonstrierenden und die unverhältnismässige Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäusserung im Internet, die in den vergangenen Tagen verhängt wurden, verstärken die Befürchtungen, dass die iranischen Behörden auf zunehmend rücksichtslosere Massnahmen zurückgreifen könnten, um abweichende Meinungen zu unterdrücken», sagte Philip Luther.

Hintergrund

Seit Beginn der Proteste am 28. Dezember 2017 in Maschhad, der zweitgrössten Stadt des Iran, haben sich diese auf mehr als 40 Städte im ganzen Land ausgeweitet.

Die Parolen, die auf den Demonstrationen skandiert wurden, prangerten eine Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Missständen an: Armut, hohe Arbeitslosigkeit, Korruption und Ungleichheit. Zudem wurden Forderungen nach der Freilassung politischer Gefangener erhoben und das herrschende politische System kritisiert, das von den Demonstrierenden als «Diktatur des Klerus» angeprangert wurde.

Seit den Protesten nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2009 hat es im Iran keine Proteste in dieser Grössenordnung mehr gegeben. Damals wurden im Zuge der Niederschlagung der Proteste mehr als hundert Demonstrierende getötet und Tausende willkürlich festgenommen und inhaftiert, gefoltert oder misshandelt.

Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem der Iran als Vertragspartei angehört, schützt die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.