Amnesty International hat mit Dutzenden Personen im Iran gesprochen, die beschrieben, wie die Behörden in den Tagen und Wochen während und nach den Protesten zahlreiche Personen ohne Kontakt zur Aussenwelt festhielten, Folter und anderen Misshandlungen aussetzten und «verschwinden» liessen. Mit allen Mitteln will das Regime die Menschen daran hindern, öffentlich das im Iran herrschende Klima der Unterdrückung anzuprangern.
Glaubwürdigen Berichten zufolge wurden zwischen dem 15. und 18. November mindestens 304 Menschen getötet und Tausende verletzt, als die Behörden mit tödlicher Gewalt gegen die Protestierenden vorgingen. Bisher weigern sich die Behörden, offizielle Zahlen bekanntzugeben.
«Erschütternde Aussagen von Augenzeugen deuten darauf hin, dass die iranischen Behörden zunächst Hunderte Demonstrierende massakrierten und unmittelbar danach mit weit verbreiteten Repressalien versuchten, die Menschen davon abzuhalten, über die Ereignisse zu sprechen», so Philip Luther, Research-Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
Durch Amnesty verifizierte und von Augenzeugenberichten untermauerte Videoaufnahmen zeigen, wie die iranischen Sicherheitskräfte das Feuer auf unbewaffnete Protestierende eröffneten, die keine unmittelbare Gefahr darstellten. Die meisten durch die Organisation dokumentierten Tötungen gehen auf Schusswaffenverletzungen am Kopf, in der Brust, am Nacken oder an anderen lebenswichtigen Organen zurück. Dies deutet darauf hin, dass die Sicherheitskräfte ihre Schusswaffen mit Tötungsabsicht einsetzten.
Die Vereinten Nationen haben erklärt, dass vorliegenden Informationen zufolge mindestens zwölf Minderjährige getötet wurden. Laut Recherchen von Amnesty International befinden sich darunter auch der 15-jährige Mohammad Dastankhah, dem in Schiraz in der Provinz Fars in die Brust geschossen wurde, als er auf dem Heimweg von der Schule an den Protesten vorbeiging. Ebenfalls getötet wurde der 17-jährige Alireza Nouri in Schahriyar in der Provinz Teheran.
«Statt weiter auf brutale Repression zu setzen, müssen die iranischen Behörden umgehend und bedingungslos alle freilassen, die willkürlich inhaftiert wurden», forderte Philip Luther. «Die internationale Gemeinschaft muss dringend Massnahmen ergreifen. Unter anderem muss der Uno-Menschenrechtsrat eine Sondersitzung zum Iran abhalten und ein Mandat für eine Untersuchung vergeben, in welcher rechtswidrige Tötungen, haltlosen Festnahmen und Vorfälle des Verschwindenlassens und der Folter überprüft werden, damit Rechenschaftspflicht gewährleistet ist.»
Massenhafte Festnahmen
Am 17. November 2019, dem dritten Tag der Proteste, berichteten die staatlichen Medien, dass mehr als 1000 Demonstrierende festgenommen worden seien. Am 26. November sagte Hossein Naghavi Hosseini, ein Sprecher des Parlamentsausschusses für nationale Sicherheit und Aussenpolitik, dass 7000 Personen festgenommen worden seien. Offizielle Zahlen wurden seitens der Behörden noch nicht bekanntgegeben.
Amnesty International hat aus mehreren unterschiedlichen Quellen erfahren, dass die Sicherheitskräfte immer noch im ganzen Land Razzien vornehmen und Menschen bei sich zuhause und auf der Arbeit festnehmen.
Es wurden auch Minderjährige inhaftiert, einige davon erst 15 Jahre alt.
Es wurden auch Minderjährige inhaftiert, einige davon erst 15 Jahre alt. Sie werden unter anderem im Fashafouyeh-Gefängnis in der Provinz Teheran festgehalten, wo Folter und andere Misshandlungen an der Tagesordnung sind. Auch Militärkasernen und Schulen werden als Hafteinrichtungen verwendet.
Zahlreiche Regierungsangehörige wie z. B. der Religionsführer und die Oberste Justizautorität haben die Protestierenden als «Verbrecher» und «Randalierer» bezeichnet und sie mit «ausländischen Mächten» in Verbindung gebracht. In den staatlichen Medien wurde gefordert, die «Anführer» der Proteste mit dem Tod zu bestrafen.
Auch JournalistInnen, Studierende und MenschenrechtsverteidigerInnen – einschliesslich Personen, die sich für Arbeitsrechte und die Rechte von Minderheiten einsetzen – sowie Angehörige ethnischer Minderheiten werden willkürlich festgenommen und inhaftiert.
Der Journalist Mohammad Massa’ed wurde am 23. November festgenommen, nachdem er auf Twitter über die staatlich veranlasste Internetzensur zwischen dem 16. und 24. November geschrieben hatte. Einige Tage später kam er gegen Kaution wieder frei.
Die Aktivistin Soha Mortezaei wurde als eine von zahlreichen Studierenden bei einer Protestveranstaltung an der Universität Teheran am 18. November festgenommen. Sie wird seither ohne Zugang zu ihrem Rechtsbeistand und ihrer Familie festgehalten. In der Universität stationierte Sicherheitskräfte hatten ihr zuvor mit Elektroschockfolter und der Einweisung in eine Psychiatrie gedroht.
Berichten zufolge sind einige Gefängnisse und Hafteinrichtungen mittlerweile stark überfüllt. Am 25. November drückte der Stadtrat von Rey in der Provinz Teheran Medienschaffenden gegenüber die Sorge aus, dass das Fashafouyeh-Gefängnis sehr stark überbelegt sei und weder die Kapazitäten noch die nötigen Einrichtungen habe, um so viele Inhaftierte zu beherbergen.
Folter und andere Misshandlungen
Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen deuten darauf hin, dass Inhaftierte in manchen Fällen gefoltert und anderweitig misshandelt wurden, unter anderem durch Schläge und Stockhiebe. Eine Person gab an, dass ein gegen Kaution freigelassener Familienangehöriger Prellungen und Schnitte am Gesicht aufwies und derart traumatisiert sei, dass er das Haus nicht verlassen wolle.
Ein durch Amnesty verifiziertes und geolokalisiertes Video zeigt, wie mit Handschellen gefesselte Inhaftierte in den Hof der Mali-Abad-Polizeistation in Schiraz gebracht und dann von Sicherheitskräften geschlagen und getreten werden.
Betroffene und AugenzeugInnen haben Amnesty International zudem mitgeteilt, dass die iranischen Sicherheitskräfte im ganzen Land Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen durchsucht haben, um verwundete Protestierende festzunehmen und in Hafteinrichtungen zu bringen. Damit verweigerten sie den Betroffenen eine potenziell lebensnotwendige Behandlung.
Eine Quelle gab an, dass Angehörige des Geheimdienstes die BetreiberInnen eines Krankenhauses in der Provinz Chuzestan zwangen, ihnen eine Liste mit den Namen aller neu eingelieferten PatientInnen auszuhändigen.
«Ohne sofortigen internationalen Druck sind Tausende Menschen weiterhin der Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt.» Philip Luther, Research-Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
«Die Behörden sind verpflichtet, alle Inhaftierten vor Folter und anderer Misshandlung zu schützen. Angesichts des systematischen Einsatzes von Folter im Iran müssen die Behörden dringend dafür sorgen, dass Uno-Angehörige, Mandatsträgerinnen und andere relevante Experten umgehend Zugang zu Hafteinrichtungen und Gefängnissen erhalten, um ihre Untersuchungen durchzuführen», so Philip Luther. «Ohne sofortigen internationalen Druck sind Tausende Menschen weiterhin der Gefahr von Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt.»
Verschwindenlassen und Haft ohne Kontakt zur Aussenwelt
Amnesty International hat Berichte darüber erhalten, dass Inhaftierte häufig wenig oder gar keinen Kontakt zu ihren Familien aufnehmen durften und dass einige unter Bedingungen festgehalten werden, die dem Verschwindenlassen gleichkommen, was ein Verbrechen unter dem Völkerrecht darstellt.
Familienangehörige der Betroffenen sagten Amnesty International, dass sie auf Polizeistationen, bei der Staatsanwaltschaft, den Revolutionsgerichten, in Gefängnissen und anderen Hafteinrichtungen nach ihren verschwundenen Verwandten gefragt, aber keine Auskunft bekommen haben.
In den Provinzen Ost-Aserbaidschan und West-Aserbaidschan wurde eine Gruppe von AktivistInnen festgenommen, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen. Deren Mütter gaben an, von den Behörden die Antwort erhalten zu haben, man «habe nicht vor», ihnen Informationen über ihre Verwandten zu geben. «Wir können mit euren Kindern machen, was wir wollen. Wir können sie so lange festhalten, wie wir wollen, zehn Jahre vielleicht... Wir werden sie hinrichten und es gibt nichts, was ihr dagegen tun könnt», so ein Beamter.
«Die Welt darf nicht tatenlos zusehen, wie die iranischen Behörden weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen begehen, um rücksichtslos alle kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen», forderte Philip Luther.