Zahlreiche Menschen hatten sich an vielen Orten im ganzen Land zu Protesten versammelt, nachdem die iranischen Behörden die Verantwortung für den Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine am 8. Januar 2020 übernommen hatten.
Die Beweise deuten darauf hin, dass die Sicherheitskräfte am 11. und 12. Januar 2020 mit Luftgewehren, die normalerweise für die Jagd verwendet werden, auf friedlich Demonstrierende geschossen haben, was zu schmerzhaften Verletzungen führte. Die Sicherheitskräfte setzten ausserdem Gummigeschosse, Tränengas und Pfefferspray ein, um die Demonstrierenden zu zerstreuen. Diese wurden auch geschlagen und getreten, mit Schlagstöcken verprügelt und willkürlich festgenommen.
«Die Anwendung rechtswidriger Gewalt bei den jüngsten Demonstrationen ist Teil eines langjährigen systematischen Vorgehens der iranischen Sicherheitskräfte.» Philip Luther, Experte für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International
«Es ist entsetzlich, dass Irans Sicherheitskräfte friedliche Mahnwachen und Proteste von Menschen, die Gerechtigkeit für die 176 bei dem Flugzeugabsturz getöteten Passagiere fordern und ihren Ärger über die anfängliche Vertuschung durch die iranischen Behörden zum Ausdruck bringen, gewaltsam niedergeschlagen haben«, sagt Philip Luther, Experte für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
«Die Anwendung rechtswidriger Gewalt bei den jüngsten Demonstrationen ist Teil eines langjährigen systematischen Vorgehens der iranischen Sicherheitskräfte.»
Rechtswidrige Gewaltanwendung
Amnesty International vorliegende Zeugenaussagen und Fotos deuten darauf hin, dass die Sicherheitskräfte Luftgewehrkugeln abgefeuert haben, was zu schmerzhaften Wunden führte und chirurgische Eingriffe zur Entfernung der Kugeln erforderte, sowie zu Verletzungen, wie sie beim Einsatz von Gummigeschossen entstehen. Derartige Kugeln sind für den Einsatz in jeder polizeilichen Situation völlig ungeeignet.
Das für die Überprüfung von Foto- und Videomaterial zuständige Digital Verification Corps (DVC) von Amnesty verifizierte auch Dutzende von Videos, die zeigen, wie Sicherheitskräfte mit Tränengas in Gruppen friedlich Demonstrierender feuern.
Unter den Sicherheitskräften, die bei den Protesten eingesetzt wurden, befanden sich die Sondereinheiten der iranischen Polizei, Angehörige der Basidsch-Miliz und Polizeikräfte in Zivil.
Eines der von Amnesty International überprüften Videos zeigt zwei Frauen in Teheran verletzt und blutend am Boden liegen. In einem weiteren Video, das in der Nähe aufgenommen wurde, sieht man eine Frau in einer Blutlache am Boden liegen und vor Schmerz schreien. Laut der Personen, die ihnen in den Videos zur Hilfe eilen, wurde auf sie geschossen. Amnesty International konnte jedoch nicht feststellen, auf welche Art von Munition ihre Verletzungen zurückzuführen sind.
Ein anderes Video zeigt einen Mann mit einer blutenden Kopfwunde. Zwei Amnesty International vorliegende Röntgenaufnahmen zeigen deutlich, dass sich im Kniegelenk eines Demonstranten und im Knöchel eines anderen Demonstranten Kugeln steckten.
Amnesty International hat auch Bilder von Sicherheitskräften überprüft, die Gewehre tragen, es ist jedoch unklar, mit welcher Art von Munition sie geladen waren.
Demonstrierende haben Amnesty Fotos ihrer Wunden zugeschickt. Aus Angst vor einer Festnahme haben sie kein Krankenhaus aufgesucht, um die Kugeln entfernen zu lassen.
Amnesty sind von mehreren Demonstrierenden Fotos ihrer Wunden zugeschickt worden. Sie sagen, sie hätten aus Angst vor einer Festnahme kein Krankenhaus aufgesucht, um die Kugeln entfernen zu lassen, die noch immer in ihrem Körper stecken und Schmerzen verursachen.
Sicherheits- und Geheimdienstkräfte sind in einigen Krankenhäusern stark präsent, was Anlass zu der Befürchtung gibt, dass sie vorhaben, Patientinnen und Patienten festzunehmen. Nach Amnesty International vorliegenden Informationen haben Sicherheitskräfte auch versucht, einige verletzte Protestierende in Militärkrankenhäuser zu verlegen. Einige Kliniken und Krankenhäuser in Teheran haben Verletzte abgewiesen und ihnen gesagt, dass sie festgenommen würden, sobald die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte herausfänden, dass sie an den Protesten teilgenommen haben.
Ein Mann aus Maali Abad in Schiras in der Provinz Fars, der nach eigenen Angaben am 12. Januar aus Solidarität mit den Opfern des Flugzeugabsturzes eine Kerze anzünden ging, sagte, die Sicherheitskräfte seien zahlenmässig überlegen gewesen und hätten eine «furchteinflössende und einschüchternde Atmosphäre erzeugt, um die Menschen abzuschrecken».
«Sie haben jeden beschimpft und mit Schlagstöcken verprügelt, auch wenn jemand vielleicht nur so vorbeigekommen ist. Dabei haben sie keinen Unterschied gemacht zwischen alt oder jung, Mann oder Frau», sagt er und fügt hinzu, dass die Sicherheitskräfte auch mit Tränengas in die Menge feuerten. Er war verletzt, wollte sich aus Angst vor einer Festnahme jedoch nicht im Krankenhaus behandeln lassen.
In mehreren Videos, die in der U-Bahn-Station Shademan in Teheran aufgenommen wurden, hört man Menschen sagen, dass die Sicherheitskräfte im U-Bahnhof Tränengas abgefeuert haben. Tränengaskanister lassen sich nur weiträumig einsetzen und können zu schweren Verletzungen und sogar zum Tod führen, besonders wenn sie in einem geschlossenen Raum zum Einsatz kommen. Sie sollten immer nur im Rahmen einer gezielten Reaktion auf bestimmte Gewaltakte verwendet werden und niemals zur Zerstreuung friedlich Demonstrierender. Sie dürfen auch niemals in geschlossenen Räumen eingesetzt werden.
In vielen Fällen verstossen die Aktionen der Sicherheitskräfte gegen das absolute Verbot von Folter und anderen Misshandlungen nach dem Völkerrecht.
Willkürliche Festnahmen
Berichten zufolge wurden in Städten, in denen Proteste stattgefunden haben, zahlreiche Personen festgenommen, darunter auch Studierende. Zu diesen Städten gehören Ahvaz in der Provinz Chuzestan, Isfahan in der Provinz Isfahan, Zandschan in der Provinz Zandschan, Amol und Babol in der Provinz Masanderan, Bandar Abbas in der Provinz Hormozgan, Kermanshah in der Provinz Kermanshah, Sanandadsch in der Provinz Kurdistan, Maschhad in der Provinz Razavi-Chorasan. Schiras in der Provinz Fars, Täbris in der Provinz Ost-Aserbaidschan und Teheran.
Wie Amnesty International erfuhr, verweigern die Behörden in mindestens zwei Städten – Amol und Teheran – einigen Familien von Inhaftierten die Auskunft über deren Schicksal und Verbleib. Dies kommt dem Verbrechen des Verschwindenlassens nach dem Völkerrecht gleich.
Ausserdem erfuhr Amnesty auch von schockierenden Anschuldigungen wegen sexueller Gewalt von mindestens eine Frau, die willkürlich von Sicherheitskräften in Zivil festgenommen und mehrere Stunden auf einer Polizeiwache festgehalten wurde. Nach informierter Quelle wurde die Frau während der Haft in einen Raum gebracht, wo sie von einem Sicherheitsbeamten verhört wurde, der sie zu Oralsex zwang und versuchte, sie zu vergewaltigen.
«Irans Sicherheitskräfte haben erneut einen unvertretbaren Angriff auf die Rechte des iranischen Volkes auf friedliche Meinungsäusserung und Versammlung verübt und zu rechtswidrigen und brutalen Massnahmen gegriffen», sagt Philip Luther.
«Die iranischen Behörden müssen die Repressionen dringend beenden und sicherstellen, dass die Sicherheitskräfte maximale Zurückhaltung üben und das Recht der Protestierenden auf friedliche Meinungsäusserung und Versammlung respektieren. In Haft befindliche Personen müssen vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt werden, und alle willkürlich Inhaftierten sind freizulassen».
Hintergrund
Die Proteste hatten am 11. Januar 2020 begonnen, nachdem die iranischen Behörden eingeräumt hatten, das ukrainische Flugzeug versehentlich abgeschossen zu haben. Dem waren drei Tage vorausgegangen, in denen die Behörden jegliche Verantwortung von sich gewiesen und technisches Versagen für den Absturz verantwortlich gemacht hatten. Die Proteste weiteten sich schnell auf Parolen gegen die herrschenden Institutionen und Forderungen nach einem Wandel des politischen Systems des Landes aus. Gefordert wurden auch ein Verfassungsreferendum und das Ende des Systems der Islamischen Republik.
Die Proteste folgen auf eine blutige Niederschlagung von Protesten, als zwischen dem 15. und 18. November 2019 iranische Sicherheitskräfte mehr als 300 Demonstrierende getötet und Tausende festgenommen hatten. Amnesty International hat die Mitgliedstaaten des Uno-Menschenrechtsrats aufgefordert, eine Sondersitzung zu Iran einzuberufen, um eine Untersuchung der rechtswidrigen Tötungen von Demonstrierenden, der Verhaftungswelle sowie der Fälle von Verschwindenlassen und Folter von Gefangenen anzuordnen und so für die Gewährleistung der Rechenschaftspflicht zu sorgen.