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Iran Mindestens 23 Kinder bei den Protesten getötet

Medienmitteilung 14. Oktober 2022, London/Bern – Medienkontakt
Mindestens 23 Kinder sind bei den andauernden Protesten im Iran rechtswidrig durch Sicherheitskräfte getötet worden. Das ergeben Recherchen von Amnesty International. Sie zeigen, mit welcher Brutalität die Behörden versuchen, die durch den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini ausgelösten Proteste im Land zu unterdrücken.

Im Iran haben Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung der anhaltenden Massenproteste gegen den Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini mindestens 23 Minderjährige rechtswidrig getötet. Dies zeigt die tödliche Entschlossenheit, mit der die Behörden gegen Personen vorgehen, die sich an den Demonstrationen beteiligen, welche sich laut Angaben zahlreicher Iraner*innen mittlerweile zu einer breiteren Widerstandsbewegung gegen die Führung der Islamischen Republik entwickelt haben.

Erschossen oder zu Tode geprügelt

Amnesty International führt in einer detaillierten Stellungnahme die Namen und Todesumstände von 23 Minderjährigen an, die während der Proteste zwischen dem 20. und 30. September durch rechtswidrige Gewaltanwendung getötet wurden. Unter den Getöteten befinden sich 20 Jungen zwischen 11 und 17 Jahren sowie drei Mädchen, von denen eines 17 und die anderen beiden 16 Jahre alt waren. Die meisten Jungen kamen ums Leben, als die Sicherheitskräfte widerrechtlich mit scharfer Munition auf sie schossen. Zwei Jungen starben durch den Einsatz von Schrotkugeln und anderen Metallgeschosse aus nächster Nähe, während die drei Mädchen und ein weiterer Junge von den Sicherheitskräften zu Tode geprügelt wurden.

Minderjährige machen 16 Prozent der von Amnesty International dokumentierten Todesfälle unter iranischen Protestierenden und Umstehenden aus.

Minderjährige machen 16 Prozent der von Amnesty International dokumentierten Todesfälle unter iranischen Protestierenden und Umstehenden aus. Bislang hat die Menschenrechtsorganisation die Namen und Umstände von insgesamt 144 Menschen dokumentiert, die von den iranischen Sicherheitskräften zwischen dem 19. September und 3. Oktober getötet wurden. Hierbei handelt es sich lediglich um die Fälle, in denen Amnesty International die Namen der Betroffenen bestimmen konnte. Die Organisation untersucht weiterhin alle Berichte über Tötungen und geht davon aus, dass die wahre Zahl der Todesopfer höher liegt.

«Die iranischen Sicherheitskräfte töteten beinahe zwei Dutzend Minderjährige, um den Widerstandsgeist der couragierten iranischen Jugend zu brechen. Wäre die internationale Gemeinschaft ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie könnte sie diesen Jugendlichen und ihren Eltern jemals wieder in die Augen sehen? Sie würde beschämt den Kopf senken aufgrund ihrer Untätigkeit bezüglich der Straffreiheit, die die iranischen Behörden trotz ihrer systematischen Verbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen durchweg geniessen», so Heba Morayef, Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

«Die iranischen Behörden haben wiederholt alle Forderungen ignoriert, den rechtswidrigen Einsatz von Gewalt zu beenden und alle diejenigen strafrechtlich zu verfolgen, die für die Tötung, das Verschwindenlassen oder die Folterung oder andere Misshandlung von Protestierenden, Umstehenden oder Inhaftierten verantwortlich sind. Der Preis für diese systematische Straflosigkeit ist der Verlust von Menschenleben, unter anderem das Leben von Minderjährigen. Die Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrats sollten dringend eine Sondersitzung abhalten und eine Resolution verabschieden, um einen unabhängigen internationalen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus für den Iran einzurichten.»

Zehn der getöteten Minderjährigen gehörten der unterdrückten belutschischen Minderheit an und wurden am tödlichsten Tag der Protestniederschlagung, am 30. September, von den Sicherheitskräften in Zahedan in der Provinz Sistan und Belutschistan getötet. Von Amnesty International dokumentierte Belege zeigen auf, dass mindestens sieben der in Zahedan getöteten Minderjährigen durch Schüsse ins Herz, den Kopf oder andere lebenswichtige Organe starben.

Aus gut informierten Quellen sowie von Amnesty geprüften audiovisuellen Nachweisen geht hervor, dass einer der Getöteten, der elfjährige Javad Pousheh, mit scharfer Munition in den Hinterkopf getroffen wurde, als die Sicherheitskräfte gewaltsam gegen eine Protestkundgebung vorgingen, die nach dem Freitagsgebet vor einer Polizeiwache und nahe einer Gebetsstätte abgehalten wurde. Die Kugel trat aus seiner rechten Gesichtshälfte wieder aus und hinterliess dabei ein Loch in seiner Wange.

Die übrigen 13 Minderjährigen wurden in den folgenden Provinzen getötet: Teheran (5), West-Aserbaidschan (4), Alborz (1), Kermānschāh (1), Kohgiluye und Boyer Ahmad (1) und Zandschan (1). Zwei der getöteten Minderjährigen waren afghanische Staatsangehörige – der 14-jährige Mohammad Reza Sarvari und die 17-jährige Setareh Tajik.

Die iranischen Behörden verbreiten Fehlinformationen

Der Anwalt von Mohammad Reza Sarvari wurde am 7. Oktober während Protesten in Shahr-e Rey in der Provinz Teheran von Sicherheitskräften erschossen. Zuvor hatte der Jurist am 21. September eine Kopie der Sterbeurkunde des Jungen online gestellt, auf der die Todesursache als «Blutungen und Verletzungen des Hirns» verursacht durch «Einschuss eines abgefeuerten Projektils» angegeben war. Der Anwalt schrieb dazu, dass er sich dazu verpflichtet fühle, das offizielle Dokument zu veröffentlichen angesichts dessen, dass Fehlinformationen, die durch die Behörden im Staatsfernsehen und in offiziellen Stellungnahmen verbreitet werden, immer häufiger 'Suizide' als Todesursache von Minderjährigen nennen, welche durch Sicherheitskräfte getötet wurden.

«Die iranischen Behörden bedrohen systematisch die Familien der Opfer und schüchtern sie ein, um die Wahrheit zu verschleiern.» Heba Morayef, Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

Während Protesten in Teheran am 28. September feuerten Sicherheitskräfte sowohl mit Schrotkugeln als auch mit anderer scharfer Munition auf den 17-jährigen Amir Mehdi Farrokhipour. Aus gut informierten Quellen heisst es, er sei an Schusswunden in den Oberkörper gestorben; Geheimdienstmitarbeiter*innen jedoch zwangen seinen Vater, ein Video aufzunehmen, in dem der Vater aussagt, dass sein Sohn bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Sie hatten dem Vater zuvor gedroht, ihn umzubringen oder andernfalls seiner Tochter etwas anzutun, sollte er sich weigern, das Video aufzunehmen.

Weitere Beispiele für die staatlichen Vertuschungsversuche sind die Fälle der beiden 16-jährigen Mädchen Nika Shakarami und Sarina Esmailzadeh, die starben, nachdem Sicherheitskräfte auf ihre Köpfe eingeschlagen hatten. Geheimdienst- und Sicherheitskräfte bedrohten die Familien der Mädchen massiv, schüchterten sie ein und zwangen sie so, Videos aufzunehmen, in denen die Familien die offizielle Version wiedergaben, nach der die beiden Jugendlichen durch einen Sprung vom Dach 'Suizid' begangen hätten.

Die neuste Welle von Tötungen während Protesten hat ihren Ursprung in der tiefsitzenden Krise der systematischen Straflosigkeit für die laut Völkerrecht schwersten Verbrechen. Diese Krise hält im Iran seit langem an, und vor dem Hintergrund des Ausmasses und Schwere vergangener und aktueller Menschenrechtsverletzungen wird deutlich, dass sich der UN-Menschenrechtsrat noch nicht hinreichend damit befasst hat. Es braucht dringend einen internationalen Untersuchungs- und Rechenschaftsmechanismus, um Beweismaterial der nach dem Völkerrecht schwersten Verbrechen, die im Iran verübt wurden, sowie anderer schwerer Menschenrechtverletzungen zentral zu sammeln, zu sichern und zu analysieren – und zwar in einer Weise, die den allgemeinen Standards der Zulässigkeit von Beweismitteln vor Gericht entspricht. Nur so können die Ermittlungen gegen und die strafrechtliche Verfolgung von denjenigen vorangetrieben werden, die einer Straftat verdächtigt werden.

«Die iranischen Behörden bedrohen systematisch die Familien der Opfer und schüchtern sie ein, um die Wahrheit zu verschleiern, dass sie, die Behörden, es sind, die das Blut der Opfer an ihren Händen haben. Diese abscheulichen Vorgehensweisen unterstreichen erneut das Ausmass und die moralische Anstandslosigkeit gewaltsamen Niederschlagung der Proteste und beweisen zudem, dass es keine Möglichkeiten innerhalb Irans gibt, Wahrheit und Gerechtigkeit zu erlange, sagt Heba Morayef.

Hintergrund

Amnesty International hat aufgedeckt, dass die oberste Militärbehörde im Iran die Kommandierenden der Streitkräfte aller Provinzen angewiesen hat, „mit aller Härte“ gegen Menschen vorzugehen, die nach dem Tod von Jina Mahsa Amini – die im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei starb – auf die Strasse gingen und protestierten. Zudem belegte die Menschenrechtsorganisation den grossflächigen und unnötigen Einsatz tödlicher Gewalt und scharfer Munition durch iranische Sicherheitskräfte, die entweder vorsätzlich Protestierende töteten oder mit ausreichender Sicherheit gewusst haben müssten, dass ihr Schusswaffeneinsatz zu Todesfällen führen würde.

Auch in der Vergangenheit sind die iranischen Behörden mit einem ähnlichen Muster rechtswidriger Gewaltanwendung, darunter auch tödliche Gewalt, gegen Protestveranstaltungen vorgegangen. So wurden bei den Protesten im November 2019 beispielsweise Hunderte Demonstrierende und Umstehende getötet, unter ihnen mindestens 21 Minderjährige.