In einem neuen Bericht (Iran: Harassment of families of victims unlawfully killed during protests must end (PDF, 42 pages) dokumentiert Amnesty International, wie die iranischen Behörden Familienangehörige der Getöteten willkürlich festnehmen und inhaftieren, friedliche Versammlungen auf Friedhöfen unangemessen einschränken und Grabsteine zerstören. Im Zuge der landesweiten Proteste, die im Iran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 ausbrachen, wurden Hunderte Menschen, darunter auch Minderjährige, von den Sicherheitskräften rechtswidrig getötet. Niemand ist bisher für dieses brutale Vorgehen zur Verantwortung gezogen worden. Amnesty International ist der Ansicht, dass die grausamen Methoden, die die Behörden gegen trauernde Familien einsetzen, gegen das im Völkerrecht verankerte absolute Verbot von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe verstossen.
«Die Grausamkeit der iranischen Behörden kennt keine Grenzen. In ihrem Versuch, ihre Verbrechen zu vertuschen, verschlimmern die Behörden den Schmerz und das Leid der Familien der Opfer. Viele Familien befürchten, dass die Behörden anlässlich des Jahrestages ihre üblichen repressiven Methoden anwenden werden, um sie daran zu hindern, Gedenkfeiern abzuhalten» Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika
«Die Grausamkeit der iranischen Behörden kennt keine Grenzen. In ihrem Versuch, ihre Verbrechen zu vertuschen, verschlimmern die Behörden den Schmerz und das Leid der Familien der Opfer. Viele Familien befürchten, dass die Behörden anlässlich des Jahrestages ihre üblichen repressiven Methoden anwenden werden, um sie daran zu hindern, Gedenkfeiern abzuhalten», sagte Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.
«Die internationale Gemeinschaft muss die Familien der Opfer unterstützen, indem sie die iranischen Behörden drängt, das Recht auf freie Meinungsäusserung, Vereinigungsfreiheit und friedliche Versammlung zu respektieren. Die Familien müssen vor willkürlichen Verhaftungen, Drohungen und anderen Repressalien geschützt werden. Die Staaten müssen die iranischen Behörden ausserdem auffordern, alle Personen freizulassen, die wegen ihres Eintretens für Wahrheit und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit den Todesfällen inhaftiert wurden, alle ungerechtfertigten Verurteilungen und Urteile gegen sie aufzuheben und alle Anklagen gegen diejenigen fallen zu lassen, gegen die Repressalien wegen ihrer Äusserungen drohen», sagte Diana Eltahawy.
Amnesty International hat die Fälle von 36 Familien von Opfern aus 10 Provinzen im ganzen Land dokumentiert, die in den letzten Monaten Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Darunter sind Familien von 33 Personen, die während der Proteste von den Sicherheitskräften unrechtmäßig getötet wurden, Familien von zwei Personen, die im Zusammenhang mit den Protesten willkürlich hingerichtet wurden, und die Familie einer Person, die im Gewahrsam gefoltert wurde und sich nach der Freilassung das Leben nahm.
Drohungen, Überwachungen und willkürliche Inhaftierungen
Die gegen die Familien der Getöteten verübten Menschenrechtsverletzungen reichen von willkürlicher Festnahme und Inhaftierung bis hin zu ungerechtfertigter Strafverfolgung auf der Grundlage vage formulierter Anschuldigungen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit, die in einigen Fällen zu Gefängnis- und Körperstrafen führten. Darüber hinaus wurden Betroffene vorgeladen und von der Staatsanwaltschaft oder Polizei unter Zwang verhört, und einige wurden rechtswidrig überwacht. Auch vor der Zerstörung oder Schändung von Gräbern schrecken die Behörden nicht zurück.
Im Juli 2023 sagte die Mutter des 16-jährigen Artin Rahmani, der am 16. November 2022 in Izeh in der Provinz Chuzestan von Sicherheitskräften erschossen wurde, auf Twitter: «Die Behörden der Islamischen Republik haben meinen unschuldigen Sohn getötet, meinen Bruder und meine Verwandten inhaftiert, und mich zur Staatsanwaltschaft vorgeladen, um mich zum Schweigen zu bringen, weil ich es gewagt habe, Gerechtigkeit für die Tötung meines Kindes zu fordern. Menschen im Iran haben kein Recht zu protestieren, und jegliche Forderung nach Freiheit wird mit grosser Gewalt unterdrückt.»
Die Behörden haben auch versucht, die Familien der Getöteten davon abzuhalten, an den Gräbern ihrer Verwandten Andachten abzuhalten, auch an den Geburtstagen der Getöteten. Wenn Familien dennoch Gedenkveranstaltungen abhielten, berichteten sie über eine starke Präsenz der Sicherheitskräfte, die gewaltsam gegen Anwesende vorgingen, Bilder machten und Familienangehörige schlugen oder willkürlich festnahmen.
Amnesty International dokumentierte und veröffentlichte Bildmaterial über die Zerstörung der Gräber von mehr als 20 Getöteten in 17 Städten. Grabstätten wurden mit Teer und Farbe beschmiert oder durch Brandstiftung beschädigt. Grabsteine wurden zerstört und Inschriften, die die Opfer als «Märtyrer*innen» oder als für die Freiheit Getötete beschrieben, wurden entfernt. Bisher haben die Behörden keine Untersuchungen eingeleitet, um die mutmasslich Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen, oder um die neuerliche Zerstörung von Grabstätten zu vermeiden.
In manchen Fällen wurden Gräber vor den Augen der Familienangehörigen geschändet. In anderen Fällen geschah dies über Nacht oder zu Zeiten, als niemand anwesend war. Davor hatten die Behörden wiederholt damit gedroht, Grabsteine zu zerstören, auf denen Unterstützung für die Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» ausgedrückt wurde oder deren Inschriften nahelegten, dass die Person aufgrund politischer Unterdrückung eines unnatürlichen Todes gestorben sei.
Die Familie von Jina Mahsa Amini hat die wiederholte Schändung ihres Grabs bereits öffentlich angeprangert. Die Behörden haben grosse Veränderungen für den Aichi-Friedhof von Saqqez in der Provinz Kurdistan angekündigt, auf dem sie begraben liegt. Dadurch würde ihr Grab für die Öffentlichkeit weniger zugänglich werden. Das Grab von Jina Mahsa Amini ist zu einem Versammlungsort für die Familien der Getöteten geworden, um dort gemeinsam Trost zu finden, gegenseitige Solidarität zu zeigen und ihren entschlossenen Forderungen nach Gerechtigkeit Ausdruck zu verleihen.
Massnahmen zur Bekämpfung der Straflosigkeit erforderlich
Die Familien der Opfer müssen mit Vergeltungsmassnahmen rechnen, wenn sie die rechtswidrige Tötung ihrer Angehörigen anzeigen oder öffentlich verurteilen, wenn sie die offizielle Linie zu den Tötungen infrage stellen, wenn sie Rechenschaftspflicht fordern, ja sogar wenn sie Versammlungen für trauernde Familien abhalten oder in den Sozialen Medien die Behörden kritisieren.
«Angesichts der systematischen Straflosigkeit im Iran fordert Amnesty International alle Staaten auf, unter dem Weltrechtsprinzip Haftbefehle für iranische Staatsbedienstete auszustellen, die begründeterweise der strafrechtlichen Verantwortung für völkerrechtliche Verbrechen während und nach den Protesten verdächtigt werden – dies gilt auch für Personen in Führungspositionen», sagte Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International.